Lange galten Studien mit Frauen in der Medizin als kompliziert. Und immer noch wissen Forschende vergleichsweise wenig über Frauengesundheit. In den Neurowissenschaften der Universität Tübingen werden Daten deshalb bereits in Tiermodellen geschlechtsspezifisch ausgewertet – und die Erforschung der Frauengesundheit in den Mittelpunkt gestellt.
Für viele psychische Erkrankungen ist Geschlecht ein Risikofaktor. Frauen sind anfälliger für Depressionen. Sie haben häufiger Angststörungen. Und entwickeln im hohen Alter eher eine Demenz. Männer erkranken dafür früher an Schizophrenie. Behandelt werden beide Geschlechter allerdings meist gleich. Das liegt auch daran, dass Daten fehlen. Lediglich in sechs Prozent der publizierten Artikel gibt es geschlechtssensitive Analysen. Und nur 0,5 Prozent der veröffentlichten Studien betreffen explizit Frauen „Wir wissen mehr über die erektile Dysfunktion und ihre Behandlung als über Frauengesundheit“, sagt Professorin Birgit Derntl.
Prof. Dr. Birgit Derntl ist Leiterin der Arbeitsgruppe Psychische Gesundheit und Gehirnfunktion von Frauen an der Tübinger Universitätsklinik für Allgemeine Psychiatrie und Psychotherapie sowie Gleichstellungsbeauftragte der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen.
Zusammen mit Kollegen und Kolleginnen aus den Neurowissenschaften möchte sie die Prävention, Erkennung und Behandlung von psychischen Störungen bei Frauen verbessern – und in der Folge bei Männern und diversen Personen. Im DFG-geförderten internationalen Graduiertenkolleg IRTG 2804 arbeiten sie gemeinsam mit der Universität Uppsala aus Schweden daran, die psychische Gesundheit von Frauen zu untersuchen – angefangen mit der Pubertät über die Zyklusphasen hinweg bis zu den Wechseljahren.
Im Fokus stehen: Kognition, Emotion und Kommunikation. Diese Funktionen sind bei Gehirnerkrankungen besonders betroffen. Und auch die körperliche Homöostase spielt eine große Rolle, wie Untersuchungen von Prof. Dr. Manfred Hallschmid zeigen. Er untersucht vor allem den Effekt von Stoffwechsel und Schlaf auf Kognition und Emotion bei Frauen und Männern. Auch in Tiermodellen werden die Daten nun nach Geschlecht ausgewertet. Zum Beispiel bei der Forschung von Prof. Dr. Steffen Hage, der sich in erster Linie mit der Kommunikation – beispielsweise der vokalen Perzeption – beschäftigt. Denn je besser Geschlechtsunterschiede verstanden werden, desto besser lässt sich die Behandlung auf die jeweilige Person abstimmen.
In longitudinalen Forschungsarbeiten werden Frauen von der Einnahme bis zum Absetzen der Pille begleitet. Und MRT-Untersuchungen an Schwangeren sollen Klarheit darüber bringen, was sich im Gehirn der Frauen von der Befruchtung bis zur Geburt ändert.
Erreicht ein Mädchen die Pubertät, steigt ihr Risiko, an einer Depression zu erkranken. Stress kann ein Auslöser sein. Besonders anfällig sind Frauen auch während der Schwangerschaft, nach der Geburt und in den Wechseljahren. „In dieser Zeit finden enorme hormonelle Veränderungen im Körper statt“, sagt Derntl. Doch wie diese das Gehirn beeinflussen, ist noch größtenteils unklar. „Nehmen wir das Gehirn einer Schwangeren“, sagt Derntl. „Das ist eine Blackbox.“ Der Grund: Studien mit Schwangeren sind komplex. Neben einem fundierten Expertenwissen benötigen die Forschenden auch die passende technische Ausrüstung, um das ungeborene Kind nicht zu gefährden. Viele Universitäten sind daher zwar in der Lage EEG-Untersuchungen durchzuführen, nicht aber umfassende neurowissenschaftliche Studien, bei denen die Veränderungen in den Gehirnen von Schwangeren im Fokus stehen. Die Folge: Daten fehlen.
Doch um Frauen während dieser sensiblen Zeit bestmöglich zu schützen, braucht es Forschung. Denn was man bisher weiß: Manche Frauen reagieren anfälliger auf hormonelle Veränderungen als andere. Bei der Einnahme der Pille leiden sie an Stimmungsschwankungen oder an depressiven Phasen. Wer diese Frauen allerdings sind, ist bisher unklar. Bei Forschungsarbeiten zu Verhütungsmitteln gehen sie in der Masse der Studienteilnehmenden unter oder sie haben die hormonelle Verhütung abgebrochen und scheinen daher in dieser Gruppe nicht auf. An der Medizinischen Fakultät Tübingen möchten die Forschenden sie aufspüren. In longitudinalen Forschungsarbeiten werden Frauen von der Einnahme bis zum Absetzen der Pille begleitet. Und MRT-Untersuchungen an Schwangeren sollen Klarheit darüber bringen, was sich im Gehirn der Frauen von der Befruchtung bis zur Geburt ändert.
Dabei arbeiten die Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler der Medizinischen Fakultät zum einen eng mit anderen Kliniken wie der Frauenklinik oder der inneren Medizin in Tübingen zusammen, zum anderen auch mit anderen Fachrichtungen der Universität. „Geschlecht braucht auch eine soziologische Perspektive“, sagt Derntl. Und meint damit Fragen, wie: Welche Rolle spielen die verhaltensbezogenen und gesellschaftsbezogenen Aspekte im Vergleich zu den neurowissenschaftlichen Aspekten? Der interdisziplinäre Austausch ist eine der Besonderheiten in Tübingen. Eine andere die starke Vernetzung mit den vor Ort ansässigen Deutschen Gesundheitszentren, wie dem Deutschen Zentrum für Psychische Gesundheit und dem Deutschen Zentrum für neurodegenerative Krankheiten. Zudem ist die Medizinische Fakultät Standpunkt im Deutschen Zentrum für Diabetesforschung. Und mit Professor Andreas Fallgatter, Leiter der Psychiatrie und Psychotherapie, gibt es eine direkte Anbindung für klinische Studien, wenn es letztendlich darum geht, geschlechtersensitive Behandlungsmethoden zu implementieren.
Die Neurowissenschaftlerin Birgit Derntl ist überzeugt: Mit dem Engagement und dem Wissen der Neurowissenschaften in Tübingen, aber auch mit der starken lokalen Forschungsgemeinschaft im Rücken kann die Medizinische Fakultät der Funke sein, den es braucht, damit wir Frauengesundheit endlich besser verstehen und geschlechtsspezifische und geschlechtersensitive Behandlungsmethoden entwickeln können.
Derntl sagt: „Den Auftrag, mehr Daten zur Frauengesundheit zu sammeln, den sehe ich nicht nur für uns, den sehe ich weltweit.“ Die Neurowissenschaften an der Medizinischen Fakultät Tübingen besitzen dabei eine Vorreiterrolle, die auch auf andere Disziplinen abfärbt, – sowohl inner- als auch außeruniversitär. Auf dem Symposium „The fe|male brain“, das 2023 an der Universität Tübingen stattfand, trafen sich Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus aller Welt. Dr. Liisa Galea von der Universität Toronto sprach über die Relevanz der Grundlagenforschung für die klinische Translation und die Notwendigkeit der Etablierung von geschlechtersensitiven Ansätzen in der Gehirnforschung. Dr. Daphna Joel von der Tel Aviv Universität lud dazu ein, über die Binarität von Sexualität, Geschlecht und Gehirn nachzudenken. Und Jill Goldstein von der Harvard Universität referierte über die Geschlechtsunterschiede bei den Komorbiditäten von Hirn- und Herzkrankheiten.
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