Parkinson kann durch viele Symptome auffallen: durch kleine, langsame Schritte, zittrige Hände oder einen unsicheren Gang. Doch wenn die Symptome sich so deutlich manifestieren, haben die Patientinnen und Patienten bereits 70 Prozent der dopaminergen Neuronen im Gehirn verloren. „Neuartige Therapien müssen aber eingreifen, solange noch relativ viele von diesen dopaminergen Neuronen intakt sind“, sagt Martin Giese, Professor für Theoretische Sensomotorik an der Universität Tübingen. Daher ist Früherkennung so wichtig.
Bionic Intelligence

Gemeinsam mit seinem Team hat er das Bewegungsverhalten von Patientinnen und Patienten mit einem erhöhten Parkinson-Risiko analysiert und wurde fündig. „Der entscheidende Hinweis sind ganz subtile Symmetrieveränderungen in den Bewegungen“, erklärt er. Das bedeutet, dass sich eine Körperhälfte nicht ganz genau so bewegt wie die andere. Für das menschliche Auge ist das nicht wahrnehmbar, auch die Erkrankten selbst bemerken es nicht. Aber Sensoren in Schuhen oder Hosentaschen können diese kleinen Symmetrieunterschiede registrieren und die Krankheit schon zehn Jahre vor dem Ausbruch der sichtbaren Symptome erkennen.
Diese detaillierte Überwachung von Krankheitsverläufen ist auch für klinische Studien wichtig, in denen neue Therapieansätze ausprobiert werden. Nur so lässt sich überprüfen, ob zum Beispiel eine neue Gentherapie auch wirklich funktioniert. „Mit klassischen Methoden kann man das nicht machen, die sind nicht sensibel genug“, erklärt Giese.
„Es gibt meines Erachtens große Unterschiede zwischen der Intelligenz im Gehirn und dem, was die Künstliche Intelligenz macht“, sagt Giese. „Die moderne KI, wie zum Beispiel ChatGPT, erschlägt im Grunde genommen alles mit Daten. Damit kann man Sachen machen, die sehr intelligent aussehen. Aber der Aufwand und die Rechenpower dahinter sind astronomisch. Das menschliche Gehirn erreicht teilweise eine ähnliche Intelligenz wie KI, allerdings mit viel, viel weniger Daten. Und das ist aus meiner Sicht eine faszinierende Sache.“
Martin Gieses Fokus liegt auf der Wahrnehmung und Kontrolle motorischer Handlungen. Neben dem bereits erwähnten Parkinson sind auch Ataxien ein Schwerpunkt seiner Forschung. Bei diesen seltenen Erkrankungen ist das Zusammenspiel verschiedener Muskelgruppen gestört. Die Betroffenen leiden an Problemen mit dem Gleichgewicht und können ihre Bewegungen nicht gut koordinieren. Grund dafür sind Schädigungen am Kleinhirn.
„Vor zehn Jahren hieß es noch, dass diese Menschen von einem motorischen Training nicht profitieren“, erinnert sich Giese. Aber eine Physiotherapeutin, mit der er zusammenarbeitete, hatte andere Erfahrungen gemacht. Also entwickelten die Forschenden ein spezielles Koordinationstraining. Damit auch Kinder gern mitmachen, verpackten sie die Übungen in Videospiele. Es wurde ein voller Erfolg. „Durch regelmäßiges Training ließ sich der Krankheitsverlauf tatsächlich verlangsamen“, erklärt der Neurowissenschaftler.
Seine Kolleginnen und Kollegen haben Schwerpunkte in verwandten Themengebieten. Prof. Dr. Daniel Häufle ist Biomechaniker und untersucht in seiner Arbeitsgruppe die Erzeugung und Kontrolle aktiver biologischer Bewegungen. Sein Ziel ist es, dass eines Tages funktionale Assistenzsysteme im Bereich Rehabilitationsrobotik zum Einsatz kommen.
Prof. Dr. Cornelius Schwarz erforscht die Physiologie der Großhirnrinde. Er arbeitet vorrangig mit Nagetieren wie Ratten und Mäusen. Sie scannen mit ihren rund um die Schnauze angeordneten Tasthaaren ihre Umgebung – ganz ähnlich wie Menschen es mit den Fingerkuppen tun. Prof. Dr. Ziad Hafed schließlich ist Primatenphysiologe und befasst sich mit der Physiologie des Stammhirns. Im Zentrum seiner Forschung steht die Frage, welchen Einfluss Augenbewegungen auf die visuelle Verarbeitung haben.

Allen Forschungsgruppen ist gemein, dass sie zwar Grundlagenforschung betreiben, aber immer die klinische Anwendung im Blick haben. „In Tübingen kombinieren wir die Arbeit an Patientinnen und Patienten mit technischer und physiologischer Expertise“, resümiert Giese. „Wir können alle Schritte abbilden, von der theoretischen Modellierung über Versuche in Nagern, Primaten und schließlich Menschen. Das ist im gesamtdeutschen Vergleich etwas ganz Besonderes.“