Frühe Warnsignale bei Alzheimer

Ganz Feierabend hat Mathias Jucker eigentlich nie. Der Neurowissenschaftler leitet eine der weltweit wichtigsten Studien zur Erforschung der Alzheimer-Krankheit: die DIAN-Studie (Dominantly Inherited Alzheimer Network). „Fast alles, was wir über den Verlauf der weitverbreiteten sporadischen Alzheimer-Krankheit wissen, kommt ursprünglich aus den Untersuchungen der DIAN-Studie zum erblichen Alzheimer“, sagt Jucker. An der deutschen DIAN-Studie nehmen rund 80 Personen aus 50 Familien teil, weltweit sind es über 500 Personen. Das Wissen um das Schicksal verbindet Forschende und Teilnehmende der Studie, man kennt sich, ruft sich an, eben auch mal am Wochenende, wie Jucker erzählt.

Die DIAN-Studie ist einzigartig: Sie konzentriert sich auf die wenigen Familien weltweit, in denen die Alzheimer-Krankheit aufgrund einer Genmutation vererbt wird. Diese Mutationen führen unweigerlich zur Krankheit.

Die DIAN-Studie, in Deutschland geleitet vom Neurowissenschaftler Mathias Jucker, bietet weltweit einzigartige Einblicke in den erblich bedingten Alzheimer. Dank Biomarker im Blut gelingt es Forschenden den Krankheitsverlauf über Jahrzehnte zu beobachten. Das nährt die Hoffnung auf Therapien, die den Ausbruch der Krankheit verhindern.

Die meisten Menschen erkranken, wenn sie zwischen 40 und 50 Jahren alt sind - ziemlich genau zu dem Zeitpunkt, zu dem auch der erkrankte Elternteil betroffen war. „Wenn jemand eine solche Mutation in sich trägt, können wir mit ganz großer Wahrscheinlichkeit vorhersagen, wann er oder sie erkranken wird“, sagt Jucker. „Diese Vorhersehbarkeit erlaubt uns diese Menschen zu untersuchen, lange bevor sie Symptome entwickeln. Das gibt uns ein Zeitfenster, in dem wir den Ausbruch der Krankheit beobachten können, was in der Normalbevölkerung sehr schwer wäre, weil wir nicht wissen ob und wann jemand an Alzheimer erkrankt.“

Ein zentrales Ziel der DIAN-Studie ist die Erforschung von Biomarkern zur Früherkennung der Alzheimer-Krankheit. Dazu gehören zum Beispiel die Proteine Beta-Amyloid, Tau oder Neurofilament im Blut. „Wir haben festgestellt, dass sich diese biologischen Indikatoren schon Jahre vor dem Auftreten der Symptome verändern“, erklärt Jucker. „Fehlerhaft gefaltete Beta-Amyloid Proteine zum Beispiel lagern sich bereits 20 Jahre vor den ersten klinischen Anzeichen in Form von Plaques im Gehirn ab, was man dann im Blut nachweisen kann.“ Diese Ablagerungen scheinen nach dem Dominoprinzip zu entstehen: Das erste fehlerhafte Protein führt dazu, dass sich andere Proteine ebenfalls falsch falten, im Gehirn ablagern und die Nervenzellen zerstören. Juckers Ziel für die nächsten Jahre ist es, dieses erste fatale Eiweiß ausfindig zu machen: „Wenn es uns gelingt, es medikamentös auszuschalten, könnten wir Alzheimer in einem präsymptomatischen Stadium erfolgreich behandeln“, ist sich der Neurowissenschaftler sicher.

Die DIAN-Studie ist einzigartig: Sie konzentriert sich auf die wenigen Familien weltweit, in denen die Alzheimer-Krankheit aufgrund einer Genmutation vererbt wird. Diese Mutationen führen unweigerlich zur Krankheit.

Die Erkenntnis, dass Alzheimer bereits 20 Jahre vor den ersten Symptomen beginnt, hat weitreichende Konsequenzen für die Erforschung möglicher Therapieansätze. „Früher dachten wir, es genüge, Menschen mit ersten Anzeichen zu behandeln“, sagt Jucker, „aber jetzt wissen wir, dass es wahrscheinlich vielversprechender ist sehr viel früher anzusetzen.“ Lange schaffte keine der medikamentösen Entwicklungen den Durchbruch - kein Wunder, denn wenn die typischen Symptome einsetzen, ist das Gehirn längst irreparabel geschädigt. „Man muss wissen, wann dieser Prozess beginnt und man muss ihn stoppen, bevor er den ersten Schaden anrichtet“, fasst Jucker die wohl wichtigste Erkenntnis aus DIAN zusammen.

Der Neurowissenschaftler geht sogar noch einen Schritt weiter: Er ist überzeugt, dass es in nicht allzu ferner Zukunft sogar ein Screening auf eine Prädisposition für Alzheimer geben wird. „Das ist für mich der einzig logische Weg. Menschen ohne Symptome würden getestet und bei einem auffälligen Biomarker-Profil präventiv behandelt werden, damit Alzheimer gar nicht erst ausbricht.“ Möglich machen das technische Fortschritte in der Diagnostik. „Schon heute können wir Tausende von Proteinen aus einem einzigen Blutstropfen analysieren. So lassen sich Muster erkennen, die auf Alzheimer oder andere neurodegenerative Erkrankungen hinweisen“, erklärt Jucker. Und dieses sogenannte Proteom könnte in Zukunft ein revolutionärer Schritt in der Alzheimer-Früherkennung sein.

„Unsere Spezialität hier in Tübingen ist es, die Mechanismen hinter den Veränderungen der Biomarker zu verstehen“, sagt Jucker. „Wir wollen nicht nur wissen, ob ein Protein ansteigt, sondern auch, warum das passiert und was das für die Zellen im Gehirn bedeutet.“ So geht die Bedeutung der DIAN-Studie weit über die Alzheimer-Erkrankung hinaus: Sie hat Erforschung der Biomarker revolutioniert und damit eine Grundlage für andere neurodegenerative Erkrankungen wie Parkinson geschaffen. „Viele andere Forschungsgruppen haben sich unser Modell zum Vorbild genommen“, sagt Jucker. „Sie nehmen die erblichen Fälle, bei denen man weiß, dass sie erkranken werden und schaut sich die Biomarker an.“ So suchen Forschende weltweit auch bei neurodegenerativen Erkrankungen abseits der Alzheimer-Demenz immer früher nach Veränderungen des Gehirns auf molekularer Ebene - um eines Tages Medikamente dagegen zu finden.

Das Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH), an dem die DIAN-Studie koordiniert wird, bildet zusammen mit der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikums Tübingen das „Hertie-Zentrum für Neurologie“