Poyraz war noch ganz klein, als bei ihm Ataxia teleangiectasia diagnostiziert wurde – eine seltene genetische Krankheit, die das Nervensystem angreift und insbesondere motorische Fähigkeiten zunehmend einschränkt- vom Gehen und Stehen über Feinmotorik bis hin zum Sprechen und Schlucken. Die Krankheit lässt ihn wackelig gehen, macht ihn aber auch anfällig für Infektionen und senkt seine Lebenserwartung. Für Poyraz‘ Eltern war die Diagnose ein Schock. Die Lebenserwartung der Betroffenen liegt im Durchschnitt bei etwa 20 bis 30 Jahren, wobei viele an Lungeninfektionen oder Krebserkrankungen sterben - oder an der zunehmenden Immobilität und Bettlägerigkeit durch den Abbau der motorischen Fähigkeiten. Doch dann erfuhren Poyraz´ Eltern von Professor Matthis Synofzik und seinem Team am Universitätsklinikum Tübingen. Der Neurologe hat sich auf die Erforschung und Behandlung seltener neurodegenerativer Erkrankungen spezialisiert. Eine seiner bahnbrechenden Forschungsrichtungen ist die Entwicklung und Erprobung personalisierter RNA-Therapien. Für Patienten wie Poyraz bedeutet dies einen Hoffnungsschimmer: eine maßgeschneiderte Therapie, die gezielt gegen ganz individuelle Genveränderungen wie bei Poyraz wirkt und so möglicherweise seinen Krankheitsverlauf verlangsamen oder vielleicht sogar etwas stoppen kann.
Präzisionsmedizin in der Neurologie

Der Forschungsansatz: individuell maßgeschneiderte RNA-basierte Therapien
Matthis Synofzik arbeitet an der Schnittstelle zwischen Klinik und Forschung, mit dem Ziel, genetisch bedingte Erkrankungen besser zu verstehen. Die RNA-Therapie ist eine relativ neue Form der Behandlung, die darauf abzielt, die genetischen Informationen auf RNA-Ebene zu verändern. Professor Synofzik entwickelt gemeinsam mit internationalen Kolleginnen und Kollegen eine Form der RNA-Therapie- eine sog. Antisense-Oligonukleotid-Therapie (ASO)-, die sie – und das ist das Bahnbrechende - ganz individuell auf die einzelnen Genveränderungen einzelner Patienten maßschneidern können. „Diese Therapie verwendet synthetische RNA-Moleküle, die gezielt an die fehlerhafte RNA im Nervensystem binden“, erklärt Synofzik. „So kann der betroffene Genabschnitt stabilisiert, das Eiweiß wieder regelrecht hergestellt, und der Krankheitsprozess möglicherweise verlangsamt werden.“ Im Fall von Poyraz hatten internationale Kolleginnen und Kollegen, mit denen Matthis Synofzik eng zusammenarbeitet, zufällig gerade einen ASO entwickelt, der auf die Genveränderung von Poyraz passte. Durch die von Matthis Synofzik parallel implementierte translationale Struktur „from bench to bedside“, d.h. vom Labor in die Klinik, konnte diese Behandlung direkt in die klinische Behandlung vor Ort umgesetzt werden.

Der Weg zur Entwicklung einer solchen Therapie ist jedoch alles andere als einfach. Zunächst muss das Team von Synofzik die genauen genetischen Fehler identifizieren, die Krankheiten wie den einzelnen Patienten wie bei Poyraz verursacht. Dazu analysierten sie die Gene von den Betroffenen und verglichen sie mit den wenigen bekannten Fällen weltweit. Sie fanden bei Poyraz heraus: Die Ursache der Erkrankung liegt in Mutationen des ATM-Gens, das normalerweise für die DNA-Reparatur zuständig ist. So entwirft das Team maßgeschneiderte RNA-Moleküle (d.h. ASOs), die genau auf die einzelnen, ganz persönlichen jeweiligen Mutationen – wie bei Poyraz – abgestimmt sind. „Wir müssen den individuellen Schlüssel für das Türschloss eines jeden Patienten und einer jeden Patientin finden“, sagt der Neurologe. Ein aufwändiger Prozess, der sowohl Zeit als auch Ressourcen in Anspruch nahm – und das alles mit ungewissem Ausgang. Bei Poyraz gelang dieses sehr schnell: Zwar passte keiner der vielen ASOs, die das Team von Synofzik für Genveränderungen individueller Patienten mittlerweile entwickelt hat; aber ein ASO von einem Kollaborationspartner aus der engen internationalen Zusammenarbeit von Professor Synofzik.
Von der Forschung zur Anwendung
Die Entwicklung einer solchen RNA-Therapie gleicht oft einem Wettlauf gegen die Zeit, insbesondere bei jungen Patienten wie Poyraz. „Time is brain“, sagt Professor Synofzik. „Je früher wir behandeln, desto wirksamer sind die Therapien.“ Professor Synofzik und sein Team setzen alles daran, innovative Ansätze möglichst schnell in die Klinik zu bringen, ohne dabei die Sicherheitsstandards zu vernachlässigen. Nachdem die ASO-Therapie an Modellen getestet und als sicher eingestuft wurde, begann die vorsichtige klinische Anwendung bei Poyraz. Ob die Therapie Wirkung zeigt? Das kann Neurologe Synofzik erst in mehreren Jahren sagen. Bis heute hat Poyraz aber kaum weitere Symptome, die Erkrankung stagniert also wohl. Ob das nur dem natürlichen individuellen Verlauf der Erkrankung entspricht - oder tatsächlich ein Therapieerfolg ist? Das wird die Zeit zeigen.
Der Plattform-Ansatz: von der Therapie für einen Einzelnen zur Therapie für viele Einzelne
Doch die Erkenntnisse sollen nicht nur dem siebenjährigen Jungen vorbehalten sein. Er ist nur ein erstes Beispiel für einen viel umfassenderen zugrundeliegenden Ansatz. Denn nach dem Prinzip "n-of-1 for n-of-many" ist die Therapieentwicklung von Professor Synofzik eingebettet in einen umfassenderen Plattform-Ansatz. Die personalisierte Behandlung für einen ersten einzelnen Patienten (n-of-1) ist hierbei nur der Vorreiter für eine gesamte zugrundeliegende Plattform-Entwicklung, wo die einzelnen Therapien dann, bei Erfolg, auf andere Patientinnen und Patienten mit genetischen Mutationen von ähnlichem Typus, aber durchaus gänzlich anderen neurologischen Erkrankungen angewendet werden (n-of-1 for n-of-many).
Diesen Plattform-Ansatz hat Synofzik gemeinsamen mit nationalen und internationalen Kolleginnen und Kollegen des Netzwerks „ 1 Mutation 1 Medicine“ (1M1M) nun auch in einen umfassenderen Versorgungs- und Vernetzungsprozess eingebettet, damit auch andere Ärzte und Ärztinnen bzw. deren Patienten von dem Plattform-Ansatz profitieren. Sie stellen eine Art „Schablone“ bereit, die Ärztinnen und Ärzte in ganz Europa mit wertvollen Informationen und Therapieansätzen unterstützt, wenn sie auf Patientinnen und Patienten mit ähnlichen seltenen genetischen Mutationen treffen.
Die Arbeit von Professor Synofzik und seinem Team hat weitreichende Implikationen für die Behandlung seltener genetischer Erkrankungen. Ihre Forschung zeigt, dass es möglich ist, für jeden Patienten eine individuell zugeschnittene Therapie zu entwickeln – eine Art „maßgeschneiderte Medizin“, die die Zukunft der Neurologie prägen könnte. Durch die Kombination aus modernster Technologie und einem tiefen Verständnis für die genetischen Grundlagen dieser Erkrankungen schaffen Synofzik und sein Team somit neue Perspektiven für Menschen wie Poyraz, aber gleichzeitig ein ganz neue Richtung in der Neurologie: eine individuell maßgeschneiderte Präzisionsmedizin.
