Genetisch kam er als Junge zur Welt, doch eine der frühen Untersuchungen ergab, dass mit seinen Hoden etwas nicht stimmt. Heiko sollte im Krankenhaus wegen eines Hodenhochstandes operiert und zudem eventuell beschnitten werden. Dabei stellte man fest: Das Kind trägt auch Teile einer Gebärmutter und weitere weibliche Relikte im Bauch. Heiko kann sich demnach sowohl zum Mann als auch zur Frau entwickeln. „Ich sehe beides in ihm, es ist völlig offen, in welche Richtung das geht“, sagt seine Mutter Alexandra M. (Name geändert). Sie möchte, dass ihr Kind so akzeptiert wird, wie es ist. In der Familie klappt das gut. Nur in der Schule reagieren die Kinder mitunter auf die Glitzerschuhe und finden, dass das Mädchenkram sei. Bestärkt durch seine Familie lernt er damit umzugehen.
Alexandra M. unterstützt ihren Sohn in seiner Entwicklung, wo auch immer diese hingeht. Das ist ein schwieriger Weg: In einer Klinik an ihrem ehemaligen Wohnort trafen sie zunächst auf einen Arzt, der sie zwingen wollte, das damals dreijährige Kind zu operieren – damit es eindeutig als Junge oder als Mädchen aufwachse. Die Mutter war entsetzt und weigert sich: „Das wollte ich nicht, ich konnte das doch nicht für mein Kind und dessen Zukunft entscheiden. Das wäre so endgültig gewesen“, erinnert sie sich. Alexandra M. beschloss, eine zweite oder dritte ärztliche Meinung einholen und suchte nach psychologischer Betreuung.
Verbot geschlechtsverändernder Eingriffe im Kindesalter seit 2021
„In der Vergangenheit wurden viele Intersexuelle im frühen Kindesalter operiert. Eingriffe, die nicht umkehrbar sind“, erklärt Priv.-Doz. Dr. Verena Ellerkamp, Oberärztin der Kinderchirurgie und Kinderurologie an der Kinderklinik Tübingen. Nach dem Umzug der mittlerweile alleinerziehenden Mutter mit ihren drei Kindern ist Heiko dort seit einigen Monaten in Behandlung. Eine Garantie, dass sich Menschen mit dem durch die Operation vorgegebenen Geschlecht identifizieren und wohl fühlen, konnten die Chirurginnen und Chirurgen damals nicht geben. Heute sind derart lebensverändernde Eingriffe deshalb juristisch nicht mehr möglich: Durch eine Gesetzesänderung im Jahr 2021 dürfen geschlechtsverändernde Operationen vor „Erreichen der selbstbestimmten Entscheidungsfähigkeit des Kindes“ nicht mehr durchgeführt werden – außer sie sind medizinisch begründet.
Vor einer Operation tagt ein interdisziplinäres Komitee – darin Expertinnen und Experten aus Kinderchirurgie, Endokrinologie, Psychologie und Ethik. Auch Personen aus Selbsthilfegruppen können auf Wunsch der Eltern bei der Entscheidungsfindung helfen. Sobald das Kind in die Pubertät kommt, sollte allerdings eine Entscheidung getroffen werden: Es muss zwar nicht operiert werden, doch eventuell müssen weibliche oder männliche Hormone verabreicht werden. Sonst können gesundheitliche Probleme auftreten, etwa mit dem Knochenwachstum. Dann droht Kleinwüchsigkeit. Doch wie soll man bei einem sehr jungen Menschen entscheiden, ob er sich männlich oder weiblich fühlt? „Das ist nicht einfach“, sagt Ellerkamp. Das Kind und die Familie werden befragt, am Klinikum gebe es dafür spezialisierte Psychologen und Psychologinnen. Und auch dann werde noch keine endgültige Entscheidung im Sinne von geschlechtsverändernden Operationen getroffen, erklärt die Kinderchirurgin. Wenn möglich, erhalte man beide geschlechtsspezifischen Anlagen – aus dem Vaginalrelikt könne später operativ eine Vagina für ein weibliches Leben werden, nicht ausdifferenzierte Hoden könne man hingegen für ein Leben als Mann operieren. Jeder Fall ist dabei individuell. „Es gibt einen ganzen Blumenstrauß vielfältiger Veränderungen, die zur Intersexualität führen können. Dabei haben alle unterschiedliche Hintergründe, die auch entsprechend unterschiedlich behandelt werden müssen“, berichtet Ellerkamp.
Lebenslange Betreuung in Tübingen
Werden die Kinder erwachsen, wechseln sie von der Kinderklinik zu den Hormonspezialisten für Erwachsene: „Die in der Kinderklinik begonnene hormonelle Therapie wird weitergeführt und angepasst“, erklärt Prof. Dr. Baptist Gallwitz, stellvertretender Ärztlicher Direktor der Inneren Medizin IV, Abteilung Diabetologie, Endokrinologie, Nephrologie. „Bei den Kindern kümmern sich die Eltern um die Therapie, achten auf Unregelmäßigkeiten und melden sich, wenn es Probleme gibt. Sind die Kinder erwachsen, müssen sie selbst darauf achten, denn die Hormonbehandlung dauert ihr ganzes Leben lang“, so der Endokrinologe. Ähnlich wie die Insulingabe bei zuckerkranken Menschen müssen die Hormone „bedarfsgerecht“ angepasst werden. Die Dosierung wird dabei individuell eingestellt und je nach Lebenssituation verändert: Beim Sport oder Stress im Beruf unterscheidet sich die Hormongabe im Vergleich zu einem ruhigen, stressfreien Urlaub am Strand. „Betroffene können das selbst regeln, sie werden an der Klinik zu mündigen Patienten und Patientinnen geschult“, sagt Gallwitz. Dazu gehöre beispielsweise auch, dass sie über Probleme bei einer Fehldosierung Bescheid wüssten, um richtig darauf reagieren zu können. Bei Erwachsenen komme außerdem der Kinderwunsch hinzu. Auch darauf müsse bei den unterschiedlichen Formen der Intersexualität geachtet werden. Bei Frauen sei die Hormonersatztherapie einerseits nicht zur Verhütung geeignet, andererseits müsse sie bei Kinderwunsch verändert werden. Dies gelte auch für Männer. Das männliche Geschlechtshormon Testosteron müsse dann durch weitere Hormone ergänzt werden.
Am Anfang des Lebens sind alle Menschen zunächst neutral. Bei der Befruchtung wird das genetische Geschlecht festgelegt: Zwei X-Chromosomen stehen für weiblich (XX), ein X- und ein Y-Chromosom für männlich (XY). In den ersten sechs Wochen hat jeder Fötus die Anlagen für beide Geschlechter. Erst danach reifen entweder Eierstöcke oder Hoden, die wiederum geschlechtsspezifische Hormone bilden und so die Entwicklung zum Mädchen oder Jungen steuern. Manchmal aber fehlen Chromosomen oder sind überzählig. Oder Enzyme versagen ihren Dienst, Hormone fallen aus oder bleiben wirkungslos. Die Auswirkungen auf die Entwicklung des Neugeborenen sind entsprechend vielfältig – Ärzte und Medizinerinnen kennen eine Vielzahl verschiedener intersexueller Veränderungen.