Während der Schwangerschaft und im ersten Lebensjahr schien mit Poyraz alles normal zu sein“, berichtet seine Mutter. „Mit 13 Monaten begann er zu laufen. Sein Gleichgewicht war zwar nicht gut, aber wir dachten, das sei vorerst normal. Als er 18 Monate alt war, wurden die Probleme deutlicher: Er schwankte, wenn er stillstand, und er lief lieber, als dass er ging. Zu diesem Zeitpunkt beschlossen wir, einen Kinderneurologen aufzusuchen.“ Auch Sprechen fiel dem Jungen schwer. Nach einigen Monaten und vielen Tests erhielten Poyraz und seine Familie schließlich die Diagnose: Ataxia teleangiectasia, kurz AT. Bei dieser sehr seltenen Erkrankung sterben Nervenzellen ab, die für die Koordination der Bewegung zuständig sind. In Folge verlieren betroffene Personen meist im Jugendalter die Fähigkeit, frei zu gehen, und sind ab dem frühen Erwachsenenalter pflegebedürftig. Doch es bedeutet nicht nur, nicht mehr gehen zu können: Durch die Erbkrankheit sind Betroffene oft anfällig für Bronchitis oder Leukämie.
Genmutation verursacht seltene Erkrankung
Poyraz kam mit einer angeborenen Veränderung eines Gens zur Welt, einer sogenannten Mutation. Beide Elternteile sind Träger der Mutation, die aber erst bei Poyraz zur Erkrankung führt. Die Eltern sind gesund. Bei dem Fünfjährigen können die Zellen das Gen nicht mehr richtig lesen und umsetzen. „Die Mutation löst eine ganze Abfolge an fehlerhaften Vorgängen in den Zellen aus – an einer Stelle im Prozess wird ein wichtiges Eiweiß in nicht ausreichendem Maß gebildet. Das führt langfristig zum Tod der Zellen. Bislang gibt es keine Therapie, die an der Ursache der Erkrankung ansetzt“, erklärt Prof. Matthis Synofzik vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung und vom Universitätsklinikum Tübingen. In Poyraz‘ Fall bedeutet das Koordinations- und Bewegungsschwierigkeiten.
Poyraz und sein Arzt Matthis Synofzik
Bislang stand keine generelle Therapie zur Verfügung, die Poyraz helfen könnte. Also wurde die Forschung auf ihn zugeschnitten: Im Rahmen eines individuellen Heilversuchs wird der kleine Patient nun mit einer für ihn maßgeschneiderten RNA-Therapie behandelt. Dafür wurde im Reagenzglas ein RNA-Schnipsel entwickelt, das sogenannte Antisense-Oligonukleotid (ASO), das ganz genau an die Genmutation des kleinen Jungen angepasst wurde. Es soll in Poyraz‘ Nervenzellen der Mutation entgegenwirken und bei der Herstellung des bisher fehlenden Eiweißes unterstützen. Das Ziel: Poyraz‘ Krankheitsverlauf zu verlangsamen oder sogar vorübergehend aufzuhalten.
Dabei handelt es sich um eine einzigartige Therapie: „Das maßgeschneiderte ASO ist so individuell, dass es nur diesem einen Patienten helfen kann – ganz ähnlich wie ein Schlüssel, der nur in ein einziges Schloss passt. Eine zweite Person mit Ataxia teleangiectasia, deren Genmutation leicht verschieden ausfällt, benötigt ein anderes ASO“, so Neurologe Synofzik. Die Forschenden nennen ihr Forschungsprogramm daher „Eine Mutation, eine Medizin“. Das Forscherteam arbeitet eng mit einem transatlantischen Netzwerk zusammen. Partner des Boston Children Hospital und der Harvard Medical School (beide in den USA) stellten in diesem Fall das ASO für den Patienten her. Der Weg zur Therapie begann für den Fünfjährigen also in den USA, wo er die ersten vier Dosen ASO ins Nervenwasser injiziert bekam. Nun geht der Weg in Tübingen weiter, wo Poyraz fortan alle drei Monate eine Erhaltungsdosis bekommen wird.
Neuer Weg der Medikamentenentwicklung
Laut Matthis Synofzik ist dieser hoch individualisierte Ansatz eine Revolution in der Medizin. Die Medikamentenentwicklung durchlaufe normalerweise andere Wege, die fest geregelt und langwierig seien und viele verschiedene Forschungsstufen umfassten. Gerade bei einer seltenen Erkrankung eignet sich diese Entwicklung aber nicht immer, auch des Zeitdrucks wegen: „Die individualisierte Entwicklung eines Medikaments und ihre Anwendung über den Weg des individuellen Heilversuchs bleibt hier der einzige Ausweg“, so die Neurologin Dr. Rebecca Schüle vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung und den Universitätsklinika Tübingen und Heidelberg.
Damit in Zukunft weiteren Patientinnen und Patienten mit seltenen erblichen Krankheiten geholfen werden kann, erstellen die Medizinerinnen und Mediziner eine Art Baukasten zur Entwicklung von weiteren individuellen ASO-Therapien. Zwar ist die Therapie individuell, doch es müssen nur winzige Teile ausgetauscht werden. Sie sollen zukünftig auch in Tübingen, Heidelberg und Leiden (NL) entwickelt werden, anstatt nur in den USA.