Universitätsklinikum Tübingen PULS
Magersucht bei Jugendlichen

Auf der Spezialstation für Anorexie in Tübingen gibt es Hilfe

Immer mehr Kinder und Jugendliche erkranken an Magersucht. Auf der Spezialstation 17 der Tübinger Kinder- und Jugendpsychiatrie hilft man dabei, wieder das zu erlernen, was die Anorexie Betroffenen nimmt: ausreichend essen zu können – und für seinen Körper zu sorgen.
22.02.2024
Susan Jörges
8 Minuten
Auf der Spezialstation für Anorexie in Tübingen gibt es Hilfe

Etwa 500 Kalorien hat das Stück Gemüse-Lasagne. Viel zu viele in den Augen der Patientinnen. Kleine Stücke werden von links nach rechts geschoben. Manche kratzen den Käse von der obersten Lasagneplatte ab, er hat die meisten Kalorien. Essen hat für alle hier nichts mit Genuss zu tun. Essen ist anstrengend und fordert Kraft.

Jeweils zehn Kinder und Jugendliche mit Magersucht werden für mehrere Monate auf der Spezialstation 17 in der Kinderklinik des Universitätsklinikums behandelt. Für sie stellt ein Team aus Psychotherapeutinnen, Ärzten, Fachpflegekräften, Erziehern sowie Ernährungs-, Bewegungsund Musiktherapeuten einen individuellen Therapieplan zusammen. Vormittags haben die Patientinnen Unterricht im Klassenzimmer auf der Station. Yoga, Musik- oder Kunsttherapie, Bogenschießen oder Ernährungsschulungen füllen die Wochentage. Zu den Essenszeiten kommen alle im Gemeinschaftsraum zusammen, wo bunte Papierschmetterlinge, Fotos und Bilder an den Wänden hängen. 

Ihre Zimmer schmücken die Patientinnen oft mit persönlichen Gegenständen und selbstgemalten Bildern.

Zwischendurch bleibt Zeit für Spaziergänge oder Entspannung. Die festen Abläufe auf der Station seien zwar anfangs ungewohnt für die Patientinnen. „Aber sie sind wichtig. Die Magersucht nimmt im Leben der Patientinnen viel Raum ein und sucht sich viele Schlupflöcher. Klare Strukturen helfen, um der Anorexie möglichst wenig Spielraum zu geben“, erklärt die Oberärztin Dr. Daniela Hagmann, die die Station gemeinsam mit der Psychologin Dr. Ute Dürrwächter seit dem Frühjahr 2022 leitet.

Bewusstsein für die Erkrankung schaffen

Kathrin Lang ist Psychotherapeutin und arbeitet die Erkrankung mit den Patientinnen auf. „Manche wissen, dass sie deutlich zu dünn sind und Unterstützung brauchen. Bei anderen gilt es, zunächst ein Bewusstsein für die Erkrankung zu schaffen und gemeinsam zu überlegen, was sich ändern soll“, erzählt die Therapeutin. Ein wichtiger Teil ihrer Arbeit sind Elterngespräche. Die Angst, an der Magersucht ihrer Kinder Schuld zu haben, sei oft groß. „Doch den einen Auslöser gibt es nicht“, sagt Lang und deutet auf eine Mindmap, die sie Eltern manchmal zeigt. Die Begriffe Schule, Freundeskreis, Eltern und Social Media stehen in den ovalen Formen, die auf die Entstehung der Magersucht Einfluss nehmen können.


  • Kernmerkmale: Stark eingeschränkte Nahrungsaufnahme, intensive Angst vor Gewichtszunahme, gestörtes Körperbild

  • Folgen: Starke Unterernährung, hormonelle Störungen, Organschäden, im Extremfall lebensbedrohlich

  • Kernmerkmale: Wiederholte Essanfälle mit Kontrollverlust, gefolgt von Erbrechen, Fasten, Sport oder Abführmitteln zur „Kompensation“

  • Besonderheit: Das Gewicht liegt meist im Normalbereich, was die Erkrankung schwer erkennbar macht

  • Kernmerkmale: Regelmäßige Heißhungeranfälle ohne anschließende Gegenmaßnahmen (kein Erbrechen etc.)

  • Folgen: Häufig Übergewicht oder Adipositas, starkes Schamgefühl, psychisches Leiden

  • Kernmerkmale: Zwanghafte Fixierung auf „gesundes“ Essen, oft mit sozialen Einschränkungen und starker Selbstkontrolle verbunden

    Die Therapie soll nicht in einer Blase, abgeschirmt von der Außenwelt, stattfinden. „Es ist wichtig, dass die Mädchen mit den Dingen in Kontakt bleiben, die die Magersucht beeinflussen“, erklärt die Psychologin Dürrwächter. Smartphones können genutzt werden, es gibt Besuchsnachmittage und die Wochenenden dürfen je nach Stand der Therapie bei den Familien verbracht werden. Auch Bewegung wird bewusst in den Stationsalltag integriert. „Die Patientinnen haben einen starken Bewegungsdrang und eine große Unruhe. Das hängt nicht nur mit dem Zwang, Kalorien zu verbrennen, zusammen, sondern ist auch eine Folge der körperlichen Unterversorgung“, sagt Dürrwächter.

    „Insbesondere die erste Zeit nach der Entlassung ist noch mal eine große Herausforderung“

    Dass es eine Spezialstation für Essstörungen am Universitätsklinikum gibt, war nicht immer so. Vor der Pandemie wurden an Magersucht erkrankte Patientinnen auf den Therapiestationen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt. Als in der Pandemie die Zahl der dringend stationär behandlungsbedürftigen Kinder- und Jugendlichen sprunghaft anstieg und sich die Magersuchtfälle verdoppelten, erhielt das Universitätsklinikum die Möglichkeit, zehn zusätzliche Plätze bereitzustellen. Man entschied sich, mit diesen eine Station für Essstörungen aufzubauen. Nicht nur die Patientinnen profitieren laut der Oberärztin Daniela Hagmann von der Spezialisierung, sondern auch das Stationspersonal. „Unsere Mitarbeitenden haben im täglichen Umgang mit den Patientinnen deutlich an Sicherheit gewonnen. Dadurch erzielen wir bessere Therapieergebnisse – und davon wiederum profitieren unsere Patientinnen.“

    Regelmäßig tauschen sich die Mitarbeitenden auf der Station über den Krankheitsverlauf der Patientinnen aus.

    Durchschnittlich fünf Monate bleiben die Kinder und Jugendlichen auf der Station 17. Dann steht die Rückkehr nach Hause an. Annika hat diesen Schritt bereits hinter sich. Seit fast drei Monaten geht sie wieder zur Schule und kann die Freizeit mit ihrer Freundesgruppe verbringen. Ihre eigene Essstörung begann, als Mitschülerinnen und Mitschüler schlecht über ihr Aussehen redeten. Sie fing an, übermäßig viel Sport zu machen und Fitness-Influencerinnen zu folgen. Sie aß immer kalorienärmer und weniger. Mit einem deutlich zu niedrigen BMI wurde sie auf der Station aufgenommen. Besonders die erste Zeit sei schwierig gewesen. „Nach ein paar Wochen habe ich verstanden, dass es wichtig ist, regelmäßig zu essen, um gesund zu werden.“ Heute besucht Annika eine ambulante Therapie, um längerfristig Unterstützung zu bekommen.

    An einem Tag im Februar wird auch Malin verabschiedet. Gleich holt ihr Vater sie ab, die Taschen sind gepackt. Die zuständige Therapeutin überreicht ein kleines Geschenk, von jedem in der Runde bekommt Malin gute Wünsche mit auf den Weg. Ute Dürrwächter hofft, dass der Schritt zurück in den Alltag gelingen wird. „Insbesondere die erste Zeit nach der Entlassung ist nochmal eine große Herausforderung für die Patientinnen und ihre Familien.“ Doch die Chancen, ein Leben führen zu können, in dem Kalorien und Gewicht nicht mehr die Hauptrolle spielen, stehen gut.

    Station für die Behandlung von Essstörungen

    Auf Station 17 werden ausschließlich Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen Essstörungen behandelt. Dieser Schwerpunkt ermöglicht ein auf die Besonderheiten der Erkrankung zugeschnittenes Therapiekonzept. Ein multiprofessionelles Team aus u.a Ärztinnen, Psychologen, Sozialpädagoginnen, Psychotherapeuten, Ernährungswissenschaftlerinnen, Sport- und Bewegungstherapeuten, Musiktherapeutinnen und Mitarbeitenden der Klinikschule ist auf die Behandlung spezialisiert.

    Für die Behandlung stehen insgesamt 10 vollstationäre Behandlungsplätze zur Verfügung. Zusätzlich können bei Bedarf zwei tagesklinische Plätze für die Phase der Reintegration in den Alltag nach der stationären Behandlung genutzt werden.

    Mehr Informationen zu Behandlungskonzept und den Bausteinen der Behandlung finden Sie hier.

    Experten

    Dr. Daniela Hagmann
    Dr. Daniela Hagmann
    Oberärztin
    Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter
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