Sinas Körper hat wohlgeformte Rundungen an Bauch und Hüfte, starke Arme und schlanke Oberschenkel. Eine Figur, mit der man sich sportlich und wohl fühlen kann. Für Sina, die eigentlich anders heißt, ist der Anblick allerdings eine Herausforderung. Die 26-Jährige leidet unter Magersucht, ihre größte Angst ist, Gewicht zuzunehmen. Wie sie aussehen würde, wenn sie ein gesundes Gewicht hätte, zeigt ihr eine Virtual-Reality-Brille (VR-Brille). Mithilfe von Hand-Controllern und Trackern an Armen und Hüfte kann Sina ihren virtuellen Avatar bewegen und sich von allen Seiten anschauen.
Seit zehn Jahren lebt Sina mit Magersucht, vor allem in stressigen Phasen bestimmt die Essstörung ihren Alltag. Dass sie zu dünn ist, weiß sie. Sie hat allerdings keine Vorstellung davon, wie sie die Differenz zwischen ihrem Untergewicht und einem gesunden Normalgewicht überwinden kann. „Ich fühle mich nicht, als wäre ich von einem Normalgewicht extrem weit weg, sondern als könnte ich es quasi übermorgen erreichen.“ Daran zu denken, ein normales Gewicht zu haben und zuzunehmen, ist für viele Patientinnen und Patienten mit Magersucht fast unmöglich. „Doch genau das ist besonders am Anfang das wichtigste Ziel in der Behandlung von Magersucht“, sagt Dr. Simone Behrens, Psychologische Psychotherapeutin in der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Tübingen. Sie versucht, ihren Patientinnen mit einer VR-Brille zu helfen.
Viele Patientinnen waren noch nie normalgewichtig
Für die Studie haben 24 Studienteilnehmerinnen, die stationär oder ambulant wegen Magersucht in Behandlung waren, in vier Sitzungen eine VR-Brille aufgesetzt. „Unsere Hoffnung war, dass die Konfrontation mit dem normalgewichtigen Körper helfen kann, Ängste und Vorbehalte zu reduzieren“, erklärt Behrens. Fotos aus Zeiten anzuschauen, in denen die Patientinnen normalgewichtig waren, sei keine Alternative zu der VR-Brille. „Viele der Patientinnen, die wir behandeln, waren noch nie normalgewichtig. Oder die Verbindung zu der Zeit, in der sie ein gesundes Gewicht hatten, ist nur schwach ausgeprägt.“
Besonders oft erkranken Mädchen im frühen Jugendalter, in der Pubertät oder im jungen Erwachsenenalter an Magersucht. Jungen und Männer sind deutlich seltener betroffen. Etablierte Therapien können etwa der Hälfte der Erkrankten langfristig helfen; viele Betroffene erholen sich allerdings nur teilweise oder haben chronische Verläufe. „Zwischen 20 und 40 Prozent der Patientinnen und Patienten geben die Behandlung schnell auf. Oft fällt es schwer, die Zunahme an Kilos mit dem Selbstbild zu vereinbaren“, sagt Behrens. Mittels VR aber lässt sich ein gesundes Selbstbild schrittweise wiederherstellen – zunächst ganz ohne echte Kilos.
Technisch war die Simulation mit der VR-Brille eine Herausforderung, berichtet Behrens, denn viele virtuelle Körper sähen unrealistisch und künstlich aus. Helfen konnten Kolleginnen und Kollegen des Max-Planck-Institutes für Intelligente Systeme in Stuttgart, die biometrisch akkurate und realistische Körperformen generiert haben, die sich in Echtzeit animieren lassen.
Forschende vom Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme haben realistische Körperformen generiert, die sich in Echtzeit animieren lassen.
Neugierig auf die Figur des Avatars
Sina dreht sich von links nach rechts, tastet vorsichtig an den Hüften des Avatars und schaut sich von hinten an. Der Anblick ihres virtuellen Ichs ist für die junge Frau ungewohnt, aber weniger schlimm als erwartet. „Ich hatte gedacht, dass es mir mega viel Angst macht, aber eigentlich finde ich das ganz gut.“ Nicht jede Patientin reagierte so positiv, erzählt Behrens. Etwa die Hälfte der Probandinnen habe versucht, sich kaum zu bewegen, um den Eindruck loszuwerden, dass der virtuelle Körper zu ihnen gehören könnte. In aller Regel hätten sich die Probandinnen aber nach zehn Minuten mit der VR-Brille besser gefühlt und begonnen, den Avatar genauer anzusehen.
Für die Psychologin sind die Erfolge in der Behandlung ermutigend. „Letztlich gaben alle unsere Probandinnen an, dass die mehrfachen Konfrontationen ihnen geholfen haben. Und wenn es ihnen hilft, weiter an ihrer Genesung arbeiten zu wollen, wäre schon viel gewonnen.“ Ob und wie genau die Konfrontationstherapie den Patientinnen auch langfristig helfen kann, wird Behrens in den nächsten Jahren erforschen.