Lippen-Kiefer-Gaumenspalten gehören zu den häufigsten angeborenen Fehlbildungen und treten bei etwa einer von 600 Geburten auf – auch bei Henry. Damit er trotz seiner Gaumenspalte problemlos trinken lernen kann und um zu verhindern, dass die Spalte durch den Druck seiner Zunge weiter verformt wird, erhielt er direkt nach seiner Geburt eine maßgeschneiderte Gaumenabdeckplatte. Diese wird mit einer Haftcreme am Gaumen befestigt. Bis die Fehlbildung in einer Operation korrigiert wird, muss die Platte regelmäßig durch die Kieferorthopädie kontrolliert und an den wachsenden Kiefer angepasst und erneuert werden. Dies dauert in der Regel eineinhalb Jahre. „Früher wurden individuelle Platten durch Abdrücke aus Alginat hergestellt, ähnlich wie bei Zahnspangen oder Knirscherschienen“, erklärt Dr. Christina Weismann aus der Kieferorthopädie. „Jeder, der schon einmal eine Zahnspange hatte, kann sich sicherlich an die unangenehmen Abdrücke erinnern.“ Für Säuglinge besteht zudem das Risiko, die Abdruckmasse zu verschlucken oder einzuatmen. Auch könnte das Material in tiefere Bereiche wie die oberen Atemwege oder gar in die Lunge gelangen.
Wie ein zahntechnisches Labor – nur digital
Es muss einen besseren Weg geben. Das dachte sich ein Team aus den Fachbereichen Kieferorthopädie, Neonatologie, Medizintechnik und Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, die interdisziplinär zusammenarbeiten. Es galt, die Anwendung eines digitalen Oberkieferscans auch bei Neugeborenen einzusetzen. Auf Basis des daraus entstandenen Datensatzes entwickelte das Team der kieferorthopädischen Medizintechnik unter maßgeblicher Beteiligung von Maite Aretxabaleta und Alexander Xepapadeas vom Tübinger Uniklinikum einen digitalen Workflow, welcher die direkte Fertigung einer Gaumenabdeckplatte mittels 3D-Druck ermöglicht.
Während des Scans wird von den Kieferorthopädinnen und Kieferorthopäden ein schmaler Scankopf in die Mundhöhle eingeführt. Dieser erzeugt mikrometergenaue digitale Bilder des fehlgebildeten Gaumens. Die Durchführung des Scans dauert höchstens zwei Minuten, ist risiko- und schmerzfrei und kann bei Bedarf jederzeit unterbrochen und wieder aufgenommen werden.
Sobald der 3D-Scan vorliegt, wird er am Computer weiterverarbeitet. „Wir überprüfen den Datensatz sorgfältig und erstellen am Computer, wenn nötig, eine Art Brücke über den Spalt“, erklärt Xepapadeas. Basierend auf diesem digitalen Modell kann am Computer die digitale Gaumenplatte entworfen werden, welche sich präzise an den Oberkiefer des Kindes anpassen lässt. „Die Platte besitzt die genaue Umkehrform des Gaumens. Sie überbrückt den Spalt und bewirkt, dass sich der Gaumen während des Wachstums bis zur Operation in die richtige Richtung entwickelt“, erläutert Aretxabaleta. Gefertigt wird die Gaumenplatte anschließend im 3DDrucker, der in einem additiven Fertigungsverfahren schichtweise die Platte erstellt.
Im Trend: Herstellung der Platte im 3D-Drucker
Vom Scan bis zur fertigen Platte dauert der Klinikaufenthalt im besten Fall für Eltern und Kind nur noch wenige Stunden. Je nach Schwierigkeit, insbesondere bei dem Krankheitsbild der „Robin-Sequenz“, kann der Klinikaufenthalt aber auch bis zu einige Wochen betragen. Bis zum neunten Lebensmonat müssen Eltern und Kinder etwa alle drei bis vier Monate wiederkommen, um die Platte dem Kieferwachstum anpassen zu lassen.
Eine Gaumenplatte ist in verschiedenen Ausführungen bei angeborenen Erkrankungen im Gesichtsbereich wie der Robin Sequenz, Trisomie 21 oder Lippen-Kiefer-Gaumenspalte notwendig. Sie erleichtert Säuglingen die Nahrungsaufnahme, im Falle der Robin Sequenz erleichtert die Gaumenplatte die Atmung, bis die Spaltenfehlbildung chirurgisch verschlossen wird. Die durch die Gaumenplatte harmonisierte Zungenposition ermöglicht ein gesundes Ober- und Unterkieferwachstum, die Lautbildung sowie die Sprachentwicklung. Insgesamt 436 Säuglinge wurden seit 2018 mit dem Verfahren am Universitätsklinikum Tübingen behandelt. Weitere Informationen finden Sie auf der Website des Zentrums für Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und kraniofaziale Fehlbildungen (ZLKGKF).