Universitätsklinikum Tübingen PULS
Retinitis pigmentosa

Eine Gentherapie zögert das Erblinden raus

Giada Ayleen Noce wusste früh, dass ihr Sehvermögen mit der Zeit schwinden würde – sie leidet an Retinitis pigmentosa, einer seltenen Erbkrankheit, die zur Erblindung führen kann. Eine Gentherapie an der Tübinger Universitäts-Augenklinik gibt ihr neue Hoffnung. Doch die Erkrankung schreitet weiter voran.
23.11.2023
Stephan Gokeler
7 Minuten
Eine Gentherapie zögert das Erblinden raus

„Ich fotografiere gerne, drehe Videos und Filme, die ich auch schneide und bearbeite. Eigentlich wollte ich ganz gerne später einmal etwas in dieser Richtung machen. Vielleicht sogar Schauspielerin werden“, erzählt Giada Ayleen Noce. Auf ihrem Instagram-Account sieht man eine fröhliche 18-Jährige, die Musik macht, ihren Schulabschluss und Geburtstag feiert, aber auch nachdenklich Klavier spielt und singt. Für die Zukunft hat sie sich beruflich aber einen anderen Bereich gesucht. Seit einem Jahr macht sie eine Ausbildung zur Physiotherapeutin. Denn Giada droht blind zu werden. Sie leidet an einer seltenen Erbkrankheit, der Retinitis pigmentosa. Dabei sterben Sehzellen der Netzhaut ab. Für Betroffene bedeutet dies, dass sie im Laufe des Lebens, etwa ab dem 30. Lebensjahr, fast nicht mehr sehen können. „Eine Heilung für diese Erkrankung gibt es nicht“, sagt Prof. Dr. Katarina Stingl, die an der Universitäts-Augenklinik die Sprechstunde für erbliche Netzhautdegenerationen leitet. Für eine bestimmte Form der Retinitis pigmentosa gibt es jedoch seit wenigen Jahren eine erste Gentherapie. Dieses Medikament wurde in Europa im November 2018 zugelassen und wird an nur drei Zentren in Deutschland angewendet – Tübingen ist eines davon.

„Bei dieser Erbkrankheit handelt es sich um einen genetischen Defekt“, erklärt Stingl. Fotorezeptoren werden in der Netzhaut abgebaut, und zwar hauptsächlich die Stäbchen, die für das Dunkelsehen zuständig sind. Damit Sehzellen reibungslos funktionieren, muss der Sehfarbstoff Rhodopsin in einem Kreislauf ständig erneuert werden. Dazu braucht es unter anderem ein Enzym, dessen genetische Bauanleitung auf dem Gen RPE65 sitzt. Dieses Gen ist bei einer bestimmten Form der vererbten Netzhautdegeneration defekt: Wenn Vater und Mutter beide diesen Gendefekt einfach im Erbgut tragen, sind sie zwar gesund, aber Träger. Wird die Mutation von beiden weitergegeben, hat das Kind beide Genkopien, und die genetische Bauanleitung funktioniert nicht (siehe Schema). Der Sehzyklus ist dann gestört, die Stäbchen können keine Lichtimpulse umsetzen. Sie gehen zugrunde und erholen sich auch nicht mehr. „Betroffene können in der Dämmerung und im Dunklen schlecht oder gar nichts mehr sehen, Kontraste kaum wahrnehmen, und das Gesichtsfeld ist eingeschränkt“, erklärt die Augenärztin.

Im Dunkeln auf Hilfe angewiesen

So erging es auch Giada. „Als ich etwa ein Jahr alt war, haben meine Eltern gemerkt, dass ich mit den Augen immer das Licht gesucht habe und direkt ins grelle Licht geschaut habe“, erzählt die junge Italienerin. Die Diagnose sei dann recht schnell klar gewesen, denn auch ihre ältere Schwester leidet an der Erbkrankheit. „Meine Eltern waren schon darauf vorbereitet.“ Dennoch war es ein Schock, denn es gab damals keine Therapie. Ihr Augenlicht wurde immer schlechter, vor allem in der Dunkelheit war sie auf Hilfe angewiesen. „Ich kann zwar den Teller auf dem Tisch sehen, wenn ich weiß, wo er steht. Aber ich kann nicht erkennen, was darauf liegt.“ Den ersten Hoffnungsschimmer habe es gegeben, als sie etwa zehn Jahre alt war – ihren Eltern wurde von gentherapeutischen Forschungsarbeiten berichtet, die für sie und ihre Schwester infrage kommen könnten. Tatsächlich war es im Dezember 2019 so weit. Nach zahlreichen Tests wurde bei Giada zunächst das eine, ein halbes Jahr später das andere Auge an der Tübinger Augenklinik operiert. „Eine Heilung ist auch mit der Gentherapie nicht möglich, sie kann nur das Fortschreiten der Erkrankung aufhalten und das Dämmerungssehen verbessern. Denn die abgestorbenen Sehzellen werden nicht mehr neu gebildet, nur die noch vorhandenen können wieder aktiviert werden“, sagt Oberärztin Stingl. Daher sei es wichtig, Patienten und Patientinnen so früh wie möglich zu behandeln – möglichst noch als Kind. Bei dieser Gentherapie namens Luxturna wird eine funktionierende Version des Gens RPE65 zu den Sehzellen transportiert. Ein abgeschwächtes Virus fungiert als Gentaxi und bringt das Gen an Ort und Stelle, wo es in die Zellen eingeschleust wird und fortan die korrekte Version des Enzyms bildet – die noch vorhandenen Sehzellen funktionieren wieder. Der Eingriff ist nicht einfach, denn das Medikament muss direkt unter die Netzhaut gespritzt werden. Dazu wird zunächst der Glaskörper entfernt und schließlich die Netzhaut angehoben. Bei Giada und ihrer Schwester hat die Operation gut funktioniert: „Ich habe im Dunkeln wieder viel besser gesehen“, erinnert sie sich.

Es können viele Gene defekt sein

Die Gentherapie kommt nur für Mutationen in diesem einen Gen infrage, bei anderen Formen der erblichen Netzhautdegeneration sind andere Gene defekt – bis zu 100 verschiedene Gene und deren Fehler im Erbgut können die Ursache sein. Den meisten Operierten geht es danach besser, vor allem weil sich ihre Lebensqualität enorm verbessert, wenn sie im Dunkeln nicht mehr ständig auf Hilfe angewiesen sind. Aber nicht bei allen funktioniert die Behandlung endgültig. Zudem, so Stingl, gebe es noch keine Langzeitstudien. Bei Giada wurde es nach zwei Jahren wieder schlechter. „Ich habe wieder Probleme im Dunkeln“, sagt sie. Das beeinträchtige sie nicht nur körperlich, das sei auch psychisch extrem belastend. „Man wartet darauf, dass man Stück für Stück blind wird. Das ist anders, als wenn man durch einen Unfall schlagartig nichts mehr sieht“, erklärt sie. Sie frage sich ständig, wie lange dauert es noch? Wann werde ich nichts mehr erkennen können? Wie sieht mein Leben dann aus? 

Der Grund für die Verschlechterung ist die Atrophie – ein Zellverlust. Allerdings nicht in dem Bereich, in den man gespritzt hat, sondern im Randbereich in der Nähe der Gefäße, die die Netzhaut versorgen. „Der genaue Grund für diese atrophischen Läsionen und ihr beschleunigtes Wachstum nach der Gentherapie ist unklar“, so die Augenärztin. Man geht davon aus, dass der Grund die starke Wirkung der Therapie ist. „Wenn man in einem degenerierten Gewebe plötzlich den Normalzustand herstellt und dieses schlagartig wieder auf Hochtouren läuft, kann es in manchen Bereichen dazu kommen, dass sie nicht mithalten können und untergehen“, erklärt Stingl. Als einziges Zentrum der Welt versuche man in Tübingen etwas gegen diese Atrophie zu machen. Hilfe könnte die Elektrostimulation bringen. „Die Elektrostimulation kann die Freisetzung von Wachstumsfaktoren stimulieren, hat einen positiven Einfluss auf die Blutzirkulation in der Netzhaut und kann somit die überschießende Reaktion des Stoffwechsels in den Randbereichen aufhalten“, erklärt Stingl. Auch Giada hat seit einigen Monaten ein solches Gerät zu Hause. Einmal in der Woche legt sie die Elektroden an die Augen und gibt sich für eine halbe Stunde definierte elektrische Stromstöße. „Das ist schon unangenehm – aber wenn es hilft“, sagt sie. Das soll nun in einer Studie an der Augenklinik herausgefunden werden.

Elektrostimulation bei Retinitis pigmentosa

Es gibt zahlreiche Hinweise, dass eine Stimulation des Auges mittels winziger elektrischer Ströme zur Ausschüttung von Wachstumsfaktoren und ähnlichen Substanzen bei Retinitis pigmentosa führen kann. In einer großen Folgestudie und einer Anwendungsbeobachtung konnte die Wirksamkeit und Sicherheit bei Retinitis pigmentosa belegt werden. In der Augenklinik des Universitätsklinikums Tübingen ist derzeit ist eine Behandlung mit Elektrostimulation bei Patientinnen und Patienten mit Retinitis pigmentosa unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Verwendet wird das Stimulationsgerät Okustim® der Forma Okuvision.

Sollten Sie Interesse haben oder als behandelnder Arzt oder als behandelnde Ärztin einen Patienten oder eine Patientin ans Universitätsklinikium Tübingen schicken wollen, melden Sie sich bitte per E-Mail bei Prof. Florian Gekeler: gekeler@uni-tuebingen.de

Weitere Informationen zur Elektrostimulation gibt es hier.

Experten

apl. Prof. Dr. med. Katarina Stingl
apl. Prof. Dr. med. Katarina Stingl
Oberärztin
Universitäts-Augenklinik
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