Unfruchtbar – ein Wort, das wehtun kann. Als Fachbegriff wird es offiziell verwendet, wenn ein Paar bis zu zwei Jahre lang versucht, auf natürlichem Weg schwanger zu werden, aber keinen Erfolg hat. Die moderne Medizin kennt zahlreiche Wege, um Paaren mit Kinderwunsch zu helfen. „Wir machen Mut, denn wir können viel. Aber wir können nicht alles“, sagt Priv.-Doz. Dr. Melanie Henes. Sie leitet die Reproduktionsmedizin am Universitätsklinikum. Die Tübinger Frauenklinik war in den 1970er-Jahren unter den ersten, die kinderlose Paare behandelt hat.
Weil die Situation für jedes Paar anders ist, findet das Team der Kinderwunsch-Sprechstunde stets individuelle Wege – mehr als 4.000 Paare kommen Jahr für Jahr. „Zuerst müssen wir herausfinden, woran genau es liegt“, sagt Melanie Henes. Mann und Frau werden gründlich untersucht. Die Statistik weiß: Es verteilt sich ziemlich gerecht. In gut 30 Prozent ist er die Ursache, in weiteren 30 Prozent sie. In etwa 30 Prozent der Fälle sind beide betroffen. Nur bei fünf bis zehn Prozent der Paare findet man nichts Konkretes.
Bei Frauen tickt die Uhr
Der deutlichste Unterschied zwischen Männern und Frauen: Bei Frauen spielt das Alter eine Schlüsselrolle: Ab Mitte 30 sollten Frauen sich beeilen, wenn sie sich schwertun, schwanger zu werden. Ärztinnen und Ärzte sollten so früh wie möglich aktiv werden. Etwa ab dem 45. Lebensjahr haben Frauen laut Statistik kaum noch Hoffnung auf ein Kind, zumindest mit eigenen Eizellen. Bei Männern wirkt sich das Alter nicht so drastisch aus.
Bleiben Kinder aus, checken Mediziner und Medizinerinnen allerhand im weiblichen Körper. Hormonstörungen sind dabei ein großes Thema: Die Schilddrüse wird geprüft, eine Gelbkörperschwäche und ein zu hoher Spiegel an männlichen Hormonen ausgeschlossen, ebenso verfrühte Wechseljahre oder zu viel Prolaktin. Zudem kontrolliert man die Eizell-Reifung und untersucht auf Fehlbildungen der Gebärmutter, Polypen und Myome. Es gibt Frauen, deren Eileiter nicht durchgängig sind, manche leiden an Endometriose. Das bedeutet: Gewebe, das der Gebärmutterschleimhaut ähnelt, wuchert außerhalb der Gebärmutter.
Auch beim Mann geht es um die Qualität der Keimzellen. Ein Spermiogramm zeigt: Wie hoch ist die Konzentration der Spermien? Wie beweglich und schnell sind sie? Und wie sind sie geformt? Liegt es weder am Sperma noch an seiner Reifung, klärt man, ob es Störungen beim Transport gibt, Zysten oder Verschlüsse der Samenleiter.Die wichtigen Untersuchungen beim Mann übernehmen die auf Andrologie spezialisierten Urologen des Uniklinikums. Prof. Dr. Steffen Rausch erklärt: Über Ausschluss-Diagnostik tastet man sich heran. Nicht immer sind aufwendige Verfahren nötig, um Männern zu einem normalen Spermiogramm zu verhelfen. Wenn beispielsweise ein genetischer Defekt verhindert, dass der Körper bestimmte Hormone selbst herstellt, können synthetische Hormone zugeführt werden, sodass die Hoden wieder normal arbeiten. Es kann auch helfen, den Östrogenspiegel medikamentös zu senken, etwa wenn Männer stark übergewichtig sind. Sind Samenwege verschlossen, können sie oft operativ geöffnet werden.
Viele verschiedene Fachrichtungen können hinzugezogen werden, genau das macht die Kinderwunsch-Behandlung am Uniklinikum besonders. Auch Internistinnen und Internisten sowie weitere Hormon-Spezialistinnen und -Spezialisten (internistische Endokrinologinnen und Endokrinologen) sind in Reichweite. Sind alle Punkte geklärt, kann die moderne Reproduktionsmedizin starten, meist mit dem Zyklus-Monitoring. Um Eizellen und Samenzellen zu gewinnen, gibt es verschiedene Wege – wenn nötig, kann man Spermien aus Hodengewebe extrahieren (TESE). Befruchtet wird über Insemination, In-vitro-Fertilisation (IVF) oder die intra-cytoplasmatische Spermien-Injektion (ICSI). Dann beginnt für die Paare meist das Warten.
Kinder trotz schwerer Krankheit
Die Tübinger Expertinnen und Experten sind speziell gefragt, wenn es kompliziert wird: Hier werden Paare behandelt, die von niedergelassenen Kinderwunsch-Praxen nicht angenommen werden oder dort nicht weiterkommen. Man betreut auch Paare, bei denen schwere Krankheiten den Kinderwunsch erschweren – etwa, wenn eine Frau an einer Gerinnungsstörung leidet oder wenn eine junge Krebspatientin sich wünscht, nach ihrer Krebstherapie noch Kinder zu bekommen. Auch für Frauen mit rheumatischen Erkrankungen kann der Kinderwunsch problematisch sein. Dafür haben die Tübinger eine hohe Expertise, sie haben allgemeine Behandlungs-Leitlinien mitverfasst. Ein weiterer Schwerpunkt: Weil es an der Frauenklinik ein Endometriose-Zentrum gibt, sind Patientinnen bestens aufgehoben, wenn sie trotz dieser Krankheit schwanger werden wollen.
„Bei Kinderwunsch geht es nicht nur um eine medizinische, sondern um eine ganzheitliche Behandlung“, sagt Melanie Henes. „Ganz wichtig: Bei Kinderwunsch behandeln wir immer das Paar.“ Stets werden beide betreut, beraten und begleitet, oft parallel und aufeinander abgestimmt therapiert. Wenn alles gut geht, bringen die Eltern einige Jahre später ihrem Nachwuchs das Radfahren bei.