Frau Dr. Thurner, was berichten die Menschen, die in die Sprechstunde für chronische Schmerzerkrankungen kommen?
Die Patientinnen und Patienten leiden meist schon seit mehreren Monaten oder Jahren unter ihren Schmerzen. Im Gespräch wird oft deutlich, dass sie niedergeschlagen sind und die Schmerzen den Alltag bestimmen. Typisch ist, dass die Gedanken um die Schmerzen kreisen und Betroffene bereits unterschiedliche Fachärztinnen und Fachärzte aufgesucht haben, die ihnen nicht ausreichend weiterhelfen konnten und von denen sie sich oft nicht verstanden fühlen.
Konnte hier eine Diagnose gestellt werden?
Teilweise können die Kolleginnen und Kollegen der verschiedenen Fachrichtungen in ihren Untersuchungen Veränderungen nachweisen. Oft reichen die Befunde aber nicht aus oder liegen zu weit zurück, um die Schmerzen und die Beeinträchtigungen ausreichend zu erklären. Oder die Schmerzen, die beschrieben werden, sind zu diffus, als dass sie sich auf eine klare körperliche Ursache zurückführen ließen. Wir versuchen dann herauszufinden, ob seelische Faktoren die Schmerzen verursachen oder verstärken. Die Vorstellung, dass Krankheiten entweder rein körperlich oder rein psychisch sind, gilt als überholt. Meist ist es eine Mischung mit unterschiedlicher Gewichtung. Es gibt zum Beispiel Patientinnen und Patienten, bei denen Schmerzen nach einem Bandscheibenvorfall auftreten. Durch psychische Faktoren verstärken und chronifizieren sie sich. Bei anderen wiederum äußert sich psychische Traumatisierung als Schmerz auf körperlicher Ebene. Wichtig ist, die Patientinnen und Patienten mit ihren Symptomen ernst zu nehmen. Psychosomatische Schmerzen sind nicht eingebildet.
Welche psychosomatischen Symptome werden häufig durch seelische Belastungen hervorgerufen oder verstärkt?
Zum Beispiel Kopfschmerzen, Schwindel, Nacken- oder Rückenschmerzen, Gelenkschmerzen, Magen-Darm-Beschwerden sowie Reizdarm, Herzrasen, Schweißausbrüche oder Atemnot. Die Beschwerden können manchmal verschwinden und wiederauftauchen, aber auch chronisch verlaufen. Wichtig ist, dass sich die Betroffenen zeitnah Unterstützung suchen. Je länger sie warten, desto unwahrscheinlicher ist es, dass die Schmerzen einfach wieder verschwinden.
Ein Schmerzgedächtnis entsteht?
Genau. Wenn Schmerzen lange anhalten, senden Nerven dauerhaft Impulse an das Gehirn. Dort kann es zu einer Überreaktion kommen, die Reizweiterleitung und Verarbeitung im Gehirn verändert sich und ein Schmerzgedächtnis entsteht. Anstelle von Hormonen zur Schmerzhemmung sendet das Gehirn Botenstoffe aus, die die Schmerzempfindlichkeit erhöhen. Das kann selbst dann noch geschehen, wenn die eigentliche Schmerzursache behoben oder verheilt ist. Das Gehirn hat den Schmerz „gelernt“ und reagiert auf kleinste Reize mit starken Schmerzsignalen. Besonders bei Nervenschmerzen ist das Risiko erhöht.
Dr. Caroline Thurner ist Oberärztin in der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Auf der Station behandelt sie Patientinnen und Patienten, die oft komplexe psychosomatische Krankheitsbilder oder mehrere Diagnosen haben.
Wie beurteilen Sie die psychosomatischen Faktoren einer Erkrankung?
In einem Erstgespräch schauen wir uns alle körperlichen Befunde an und fragen nach Vorerkrankungen, Belastungsfaktoren und der beruflichen und familiären Situation. Auch auf Anzeichen für Depressionen oder depressive Phasen achten wir. Oft ist es so, dass die Schmerzen von äußeren Faktoren, etwa bestimmten Situationen und Aktivitäten, oder von inneren Faktoren, wie Stimmung, Emotionen und Gedanken, beeinflusst werden. Ein Schmerztagebuch kann helfen, Auslöser oder Muster zu erkennen. Wichtig ist, sorgfältig zu prüfen, welche körperlichen, psychologischen und sozialen Faktoren eine Rolle spielen. Dazu gehört auch die gewissenhafte somatische Abklärung der körperlichen Beschwerden. Hierfür halten wir auch Rücksprache, zum Beispiel mit Neurologinnen, Kardiologen oder Orthopädinnen.
Wie können psychosomatische Symptome behandelt werden?
Bei leichteren Formen reicht es aus, wenn die Ärztin oder der Arzt einfühlsam erklärt, woher die Beschwerden kommen und dass sie vermutlich harmlos sind. Wichtig ist, Alltagsaktivitäten, Sport und Hobbys beizubehalten und soziale Kontakte weiter zu pflegen. Auch Entspannungsübungen wie Meditation, Yoga oder progressive Muskelentspannung können helfen, das Nervensystem und die Gedanken zu beruhigen. Bei schwereren Formen, deutlicher Beeinträchtigung im Alltag oder einer Chronifizierung sind spezialisiertere Therapieformate erforderlich (siehe Infokasten). Ziel der Therapie ist es, Einflussfaktoren für die Schmerzen zu erkennen und zu lernen, diese zu beeinflussen.
Ambulant: Bei der Erstvorstellung in der psychosomatischen Sprechstunde wird eine ausführliche Diagnostik und Beratung angeboten. Auch weiterführende Behandlungsmöglichkeiten werden besprochen. Menschen mit chronischen Schmerzen können Unterstützung in der edukativen Schmerzgruppe erhalten.
Tagesklinik: Die Tagesklinik ermöglicht eine intensivere therapeutische Begleitung mit Einzel- und Gruppentherapie sowie Kreativtherapien und Bewegungstherapie. Der Kontakt zum gewohnten psychosozialen Umfeld bleibt bestehen.
Stationär: Bei einem stationären, mehrwöchigen Aufenthalt kann die Behandlung individuell auf den Patienten oder die Patientin abgestimmt werden. Angeboten werden eine erweiterte psychosomatische Diagnostik, Einzel- und Gruppentherapie, Kreativ- oder Bewegungstherapie sowie Bio-Feedback-Therapie.