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Wenn der Darm rebelliert

Reizdarm: Ursachen, Symptome und Hilfe

Ungefähr fünf Prozent der Weltbevölkerung leiden unter einem Reizdarm. Darunter etwa doppelt so viele Frauen wie Männer. Was bei einem Reizdarm hilft, erklärt Prof. Stephan Zipfel, Experte für Psychosomatische Medizin und Internist am Uniklinikum Tübingen.
03.06.2025
Susan Jörges
11 Minuten
Reizdarm: Ursachen, Symptome und Hilfe
© iStock/Igor Suka

Was genau ist ein Reizdarmsyndrom – und wie unterscheidet es sich von anderen Darmkrankheiten?

„Für das Reizdarmsyndrom gibt es eine klare Definition, drei Faktoren müssen vorliegen“, weiß Prof. Stephan Zipfel, Ärztlicher Direktor der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Tübingen. Zum einen müssen mindestens drei Monate lang Darmbeschwerden vorliegen. Das können Bauchschmerzen und Blähungen sein oder auch Veränderungen des Stuhlgangs. Zweitens müssen die Beschwerden so massiv sein, dass sie die Lebensqualität der Betroffenen deutlich einschränken. Durch diese Einschränkung suchen die Betroffenen Hilfe, oft zunächst bei einem Hausarzt oder einer Hausärztin. Das Reizdarmsyndrom ist eine funktionelle Störung, also eine Erkrankung, bei der keine organisch Ursache nachgewiesen werden kann. Die Beschwerden sind real und oft sehr belastend, lassen sich aber nicht ausschließlich durch bildgebende Verfahren oder Laborwerte erklären.

Welche Symptome sind typisch für den Reizdarm?

Es gibt drei Reizdarm-Typen: Der erste ist der Durchfall-Typ, bei dem mehr als ein Viertel der Stuhlgänge sehr wässrig und sehr dünn sind. Betroffene des zweiten Typs haben starke Verstopfungen, die häufig auch mit Schmerzen einhergehen. Und dann gibt es noch einen Misch-Typ, bei dem sich diese beiden Formen abwechseln.

Welche Ursachen stecken hinter einem Reizdarm?

„Der Reizdarm ist eine typische bio-psychosoziale Erkrankung, wie wir es in der medizinischen Fachwelt ausdrücken“, erklärt Stephan Zipfel. Biologische Faktoren wie eine Störung der Darmflora oder eine Überempfindlichkeit der Darmschleimhaut spielen mit psychologischen Faktoren wie Stress, Ängsten oder Traumata zusammen. Dazu kommen soziale Faktoren wie belastende Beziehungen oder Arbeitsbedingungen. Bei jedem Patienten und jeder Patientin haben die Faktoren eine unterschiedliche Gewichtung.

Der Erkrankung voraus geht häufig ein viraler oder bakterieller Infekt, durch den der Darm gereizt wird und entweder mit Durchfall, Verstopfung oder Schmerzen reagiert. Die meisten Menschen haben nach solch einem Infekt keine weiteren Probleme. Bei etwa fünf Prozent der Betroffenen entwickelt sich danach allerdings eine Hypersensitivität des Darms – insbesondere, wenn belastende, stressige Lebenssituationen hinzukommen. Auch frühe Traumata, die in der Kindheit oder auch im frühen Erwachsenenalter erlebt wurden, können dazu beitragen. „Wenn diese Traumata nie oder nicht ausreichend aufgearbeitet worden sind, hatten die Betroffenen keine Möglichkeit, eine ausreichende Resilienz für belastende Situationen aufzubauen. Stress auf der Arbeit, in der Familie oder in der Beziehung kann dann durchschlagen – und sich zum Beispiel in einem Reizdarm zeigen“, erklärt Zipfel. Der Infekt war zwar der Auslöser, die psycho-sozialen Faktoren sind aber das, was den Reizdarm aufrechterhält. Eine Psychotherapie kann helfen, mögliche Traumata aufzuarbeiten oder belastende Faktoren zu erkennen.

Warum zeigen sich die Symptome im Darm?

Der Darm ist ein Organ mit vielen Nerven, deshalb bezeichnet man ihn auch oft als zweites Gehirn. Über die Hirn-Darm-Achse tauschen sich diese beiden Organe ununterbrochen über Nerven, Hormone und das Immunsystem aus, was Auswirkungen auf unsere Gesundheit, Stimmung und Lebensqualität hat. „Jeder Mensch hat unterschiedliche „Schwachstellen“ im Körper. Warum manche Menschen ein weniger resilientes Magen-Darm-System haben, andere dafür beispielsweise ein eher anfälligeres Herz-Kreislauf-System, ist nicht bekannt. Im Körper gibt es sehr unterschiedliche Reaktionsmuster, weil das menschliche Organsystem so komplex ist. Auch die Gene spielen hier eine Rolle“, so Zipfel.

An wen sollte man sich bei Verdacht auf Reizdarm wenden?

Für die Diagnose und auch für die Behandlung eines Reizdarmsyndroms gibt es klare Leitlinien. In einem ersten Gespräch sollten Ärztinnen und Ärzte nach den Symptomen fragen – und auch nach der aktuellen Lebenssituation. Eine Blutprobe gibt Aufschluss über Entzündungswerte, eine Stuhlprobe zeigt, ob krankhafte Erreger im Spiel sind. „Auch ein Ultraschall des Bauchs sollte gemacht werden, bei Frauen zusätzliche eine gynäkologische Untersuchung“, betont Zipfel. Wenn es auffällige Befunde gibt, sollten weiterführende Untersuchungen gemacht werden. Gibt es beispielsweise Entzündungswerte im Blut, könnte auch eine chronisch entzündliche Darmerkrankung dahinterstecken, die in einer Magen-Darmspiegelung abgeklärt werden sollte. Sind alle Untersuchungen allerdings unauffällig und andere mögliche Erkrankungen ausgeschlossen, steht die Diagnose Reizdarmsyndrom fest. „Wichtig ist, dem Patienten oder der Patientin diese Diagnose mit auf den Weg zu geben. Auch damit er oder sie einen Anhaltspunkt hat. Dann machen sich Betroffene auch weniger Sorgen um ihren Gesundheitszustand“, erklärt Zipfel. Je nach Symptomen kann dann zunächst eine medikamentöse Therapie folgen, um die Beschwerden zunächst zu lindern. 

Angst wegen der Angst

Menschen mit Reizdarm sind häufig in einem Zyklus aus Angst gefangen. „Wenn ich vor die Tür gehen, könnte es ja sein, dass ich Stuhldrang habe. Und dann könnte es sein, dass keine Toilette in der Nähe ist. Und dann könnte ich inkontinent werden und das könnte peinlich werden. Wenn man die Betroffenen danach fragt, ist das allerdings bei ganz wenigen tatsächlich schon passiert“, weiß Zipfel aus vielen Gesprächen mit Patientinnen und Patienten. Die Vorstellung, es könnte passieren, bewirkt allerdings sozialen Rückzug. Der wiederum verschlimmert die Angst und kann Depressionen und weitere Ängste hervorrufen. 

Wie sollte man sich bei einem Reizdarmsyndrom ernähren?

Eine Möglichkeit ist die FODMAPS-Diät, ein Ernährungskonzept, das Menschen mit Reizdarmsyndrom helfen kann, Beschwerden zu lindern. FODMAP steht für „fermentierbare Oligo-, Di- und Monosaccharide sowie Polyole“ – das sind bestimmte Zuckerarten und Zuckeralkohole, die im Darm schlecht aufgenommen werden und dort Blähungen, Bauchschmerzen oder Durchfall verursachen können. Einen hohen FODMAP-Gehalt haben beispielsweise Weizen, Knoblauch, Zwiebeln, Äpfel, Milchprodukte oder Honig. Einen niedrigen Wert haben Möhren, Zucchini, Reis, Heidelbeeren, laktosefreie Milchprodukte, reife Bananen oder Zitrusfrüchte. Die Diät läuft in drei Phasen ab: Zunächst werden alle FODMAP-reichen Lebensmittel konsequent für maximal sechs Wochen gemieden. Danach werden sie schrittweise und gezielt wieder eingeführt, um herauszufinden, welche Stoffe individuell Probleme machen.

„Das Ziel ist nicht, eine lange Liste an Lebensmitteln weiterhin aus der Ernährung auszuschließen. Sondern die Ernährung dauerhaft so anzupassen, dass nur die problematischen FODMAPs eingeschränkt bleiben, während verträgliche weiterhin gegessen werden können“, betont Zipfel. Nur so können die Betroffenen Freiheiten in ihrer Ernährung und somit in ihrem Alltag wiedererlangen – und gleichzeitig so essen, dass sie gut mit Nährstoffen versorgt sind. Unterstützen kann hierbei eine Ernährungsmedizinerin oder eine Ernährungsmedizinerin. Mit einer sogenannten „Ärztlichen Notwendigkeitsbescheinigung“, die man in der Hausarztpraxis erhalten kann, werden die Kosten für eine Ernährungsberatung größtenteils von der Krankenkasse übernommen. 

Wieder freier essen zu können, tut auch der Psyche gut, weiß Stephan Zipfel. „Wer sich nur noch damit beschäftigen muss, was er oder sie essen kann, hat Schwierigkeiten, an gemeinschaftlichen Aktivitäten teilzunehmen oder gemeinsam mit anderen zu essen. Was folgt ist sozialer Rückzug, der psychisch krank machen kann.“

Verschlimmert Stress den Reizdarm?

Stress und Reizdarm hängen oftmals eng zusammen. „Wer langfristig unter einem Reizdarm leidet, entwickelt häufiger stress-assoziierte Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen als jemand ohne Reizdarm“, sagt Zipfel. Auch andere funktionelle Erkrankungen können entstehen, beispielsweise ein Fatigue – also eine chronischer Erschöpfungszustand – oder chronische Schmerzen. Bei einem Reizdarmsyndrom sollte deshalb immer der gesamte Organismus betrachtet werden – besonders, wenn Menschen einen Reizdarm schon über eine lange Zeit haben. Eine Psychotherapie kann helfen, Stressfaktoren zu erkennen und mit diesen anders umzugehen.

Wie spreche ich im Freundes- und Bekanntenkreis über meinen Reizdarm?

„Über Stuhlganggewohnheiten spricht man nicht gerne, das ist verständlich. Aber es ist wichtig, sich Personen anzuvertrauen, mit denen man ein gutes Vertrauensverhältnis hat“, weiß Zipfel. Auch damit diese Personen das Verhalten und die aktuellen Einschränkungen besser nachvollziehen können. Auch Selbsthilfegruppen können die Patientinnen und Patienten ermutigen. „Wenn Patientinnen und Patienten zu uns in die Tagesklinik oder auf die Station kommen, sprechen wir unter anderem über Kommunikations- und Verhaltensmuster“, erzählt Zipfel. „Oftmals hat sich ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Kommunikation mit Partnerinnen und Partnern oder mit dem Freundeskreis eingeschliffen. Wir ermutigen dazu, Aktivitäten wieder gemeinsam zu wagen, belastende Situationen und Erlebnisse im engeren Familien- und Bekanntenkreis zu teilen oder neue Dinge zu wagen – auch um Freiheiten zurückzugewinnen. Für viele belastende Situationen gibt es Gestaltungsmöglichkeiten und Alternativen – aber man muss lernen, diese zu nutzen. In der Therapie entwickeln wir gemeinsam Ziele und priorisieren diese.“ 

Weitere Fragen zum Reizdarm:

Stressreduzierende und entspannende Maßnahmen können helfen, das Nervensystem in Balance zu bringen, das ist wissenschaftlich belegt. Dem einen hilft Yoga, anderen progressive Muskelrelaxation, wieder anderen autogenes Training oder Musikhören. „Wichtig ist, dass jede Maßnahme im Alltag praktikabel ist und nicht zu einem weiteren Stressfaktor wird. Denn das Ziel ist, dass die Betroffenen wieder am Leben teilnehmen und sich nicht weiter zurückziehen, um progressive Muskelentspannung oder Yoga zu machen“, betont Zipfel.

„Die Frage ist, was genau ein Hausmittel ist. Kamillentee beispielsweise kann super bei akuten Magen- und Darmbeschwerden helfen. Reizdarm ist in vielen Fällen aber keine akute Sache. Immer Kamillentee trinken zu müssen, würde allen, die keinen Kamillentee mögen, suggerieren, durchgehend krank zu sein – was den Reizdarm weiter triggern würde“, so der Professor für Psychosomatische Medizin. Aber das muss sehr individuell betrachtet werden. 

Sport kann bei Reizdarm helfen, solange er dosiert und mit Regeneration kombiniert wird. Jeder und jede darf ausprobieren, welche Art von Sport zu ihm oder zu ihr passt. Sport ist zwar zunächst einmal Stress für den Körper. Aber bei einem Reizdarmsyndrom muss nicht jede Art von Stress aus dem Leben verbannt werden. Vielmehr sollte eine Stress-Resilienz aufgebaut werden. Eine Kombination aus Ruhe und Aktivität ist daher wichtig“, so Zipfel.

Hilfe bei Reizdarm und Co.

Die Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Tübingen ist auf die Behandlung von Erkrankungen spezialisiert, bei denen körperliche, psychische und soziale Faktoren zusammenspielen, darunter Essstörungen, Adipositas, Somatoforme Störungen (Erkrankungen ohne ausreichende organische Ursache), Chronische Schmerzstörungen, Depressionen und Angststörungen, Posttraumatische Belastungsstörungen oder komplexe Trauerreaktionen. Die Behandlung erfolgt individuell abgestimmt in verschiedenen Settings: ambulant, tagesklinisch oder in den neuen Räumlichkeiten der Klinik auch stationär.

Weitere Informationen zur Terminvereinbarung.

© Universitätsklinikum Tübingen/Verena Müller
Im Neubau der Psychosomatik werden gesetzlich und privat versicherte Patientinnen und Patienten behandelt.

Experten

Prof. Dr. Stephan Zipfel
Prof. Dr. Stephan Zipfel
Ärztlicher Direktor
Innere Medizin VI - Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
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