Teamtraining am Simulator

Erstklassige Frühgeborenenversorgung dank Simulationspuppe „Paulchen“ 

Patientensicherheit für die Allerkleinsten:


Bei oder direkt nach der Geburt von Neugeborenen, die teilweise viel zu früh auf die Welt kommen, treten häufig akute Notfallsituationen auf. Die häufigsten Probleme der Frühgeborenen betreffen vor allem die Atmung, das Herz-Kreislauf-System und den Magen-Darm-Trakt. Dann kommt es auf Schnelligkeit, routinierte Handgriffe, eine tadellose Kommunikation und einen kühlen Kopf an. Um diesen kleinen Patientinnen und Patienten bestmöglich beim holprigen Start ins zu zeitig begonnene Leben zu helfen, trainiert das medizinische Fachpersonal der Universitäts-Kinderklinik in Tübingen regelmäßig alle möglichen Notfallszenarien an der hoch technisierten Simulationspuppe Paul, besser als „Paulchen“ bekannt. 

Der Überwachungsmonitor schlägt Alarm, das 12 Wochen zu früh Geborene atmet nicht und läuft blau an, Sauerstoffsättigung und Blutdruck fallen. An zahlreiche Sensoren und Schläuche angeschlossen, untersuchen ihn die Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte mit flinken Händen und unter höchster Konzentration. Sie stimmen sich laufend verbal und non-verbal ab und ergreifen in Windeseile alle notwendigen Maßnahmen: intubieren, beatmen, Magensonde, Nabelkatheter und Zugang legen, Medikamente verabreichen und immer die Vitalparameter im Blick behalten. Die Werte verbessern sich, der hektische Alarm am Monitor verstummt. Nach 18 Minuten ist es geschafft – ein Team aus Pflegenden, Ärztinnen und Ärzten der Neonatologie in der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin hat das Frühgeborene stabilisiert, die Anspannung weicht der Erleichterung.

Diese dramatische Szene war zum Glück nur eine Übung. Nicht am echten Baby, sondern an Paulchen: Der kleine Shootingstar der Tübinger Neonatologie misst 35 Zentimeter, bringt zarte 1 000 Gramm auf die Waage und hat echtes dunkles Haar auf dem sehr kleinen Köpfchen. Er sieht nicht nur täuschend echt wie ein Frühgeborenes aus der 28. Schwangerschaftswoche aus, er fühlt sich auch so an. Funktional betrachtet ist er aber ein modernes, vollkommen kabellos arbeitendes Hightech-Gerät. Er atmet sichtbar und schreit, weist einen spürbaren Puls auf und kann vor allem die ganze Bandbreite an Komplikationen simulieren, die bei Frühgeborenen auftreten können: Atemaussetzer, Blaufärbung durch eine unzureichende Sauerstoffsättigung, einen anschwellenden Bauch und vieles mehr.

Den deutschlandweit renommierten Expertinnen und Experten der Tübinger Kinderklinik liegt die optimale Behandlung der Kinder aller Altersstufen unter Einbindung der Eltern besonders am Herzen. Um sie bestmöglich gewährleisten zu können, absolvieren sie seit 2008 regelmäßige Trainings mit Simulationspuppen aus unterschiedlichen Altersklassen. Seit Frühjahr 2017 gehört auch Paulchen als Frühgeborenes zum eingespielten Neonatologie-Team aus Kinderärztinnen und Kinderärzten, Intensivmedizinern und Pflegekräften. Der 60 000 Euro teure Patientensimulator wurde damals als Weltneuheit in Tübingen vorgestellt und aus Spendengeldern der Stiftung „Hilfe für kranke Kinder“ – der zentralen Spendenorganisation für die Kinderklinik – finanziert.  Damit war die Kinderklinik eines der ersten Krankenhäuser in Deutschland, die über einen solchen besonders realistischen Frühgeborenensimulator verfügte.

3.374
Geburten insgesamt
400
Frühgeborene
103
Geburtsgewicht unter 1.500g

Jeder Handgriff muss sitzen

Bei den regelmäßigen Trainings übt das Team aus Ärzteschaft und Pflege unter dem Ärztlichen Direktor Prof. Dr. Christian F. Poets alle vorstellbaren Notfallszenarien an der Hightech-Puppe unter vollkommen realen Bedingungen. Dazu gehören Standard-Situationen ebenso wie spezielle oder seltene Komplikationen. Denn im Fall der Fälle entscheiden Schnelligkeit und kompetentes Handeln über Leben und Tod. „Die Simulation an Paulchen unterscheidet sich von anderen Simulationstools vor allem dadurch, dass seine vollumfängliche Lebensechtheit das Gefühl von einer technischen Trockenübung verschwinden lässt. Damit sind die Emotionen realer und der Lernprozess sehr viel tiefgründiger. Im Notfall muss jeder Handgriff sitzen“, berichtet Dr. Cornelia Wiechers, Oberärztin der Neonatologie. „Das Training mit Paulchen hilft uns enorm dabei, dass wir zu jedem Zeitpunkt in der Akutversorgung wissen, wann was wie und von wem zu tun ist, und wir diese Erfahrungen nicht am lebenden Kind sammeln müssen“, ergänzt Dr. Karen Kreutzer, Oberärztin der Intensivbehandlungsstation für Früh- und Neugeborene. 

Neben der medizinischen Expertise ist die uneingeschränkt funktionierende Kommunikation im Team das A und O: Deshalb wird auch die ideale Abstimmung aller Beteiligten in den Simulationsszenarien sehr intensiv trainiert. Auf diese Weise konnte die Kommunikation über die Jahre erheblich optimiert und auf ein ganz neues Level gehoben werden: „Missverständnisse dürfen ebenso wenig aufkommen wie Informationsverluste“, sagt Dr. Wiechers. „Natürlich übernehmen erfahrene Ärztinnen und Ärzte die Führungsrolle über die durchgeführten Maßnahmen bei der Notfallversorgung und Reanimation, aber jeder sollte ein aktives Teammitglied sein. Es ist demnach ausdrücklich erwünscht, Ideen einzubringen, Therapievorschläge zu machen oder sogar Maßnahmen begründet infrage zu stellen  – Pflegekräfte ebenso wie Oberärztinnen und Oberärzte. Das macht das interprofessionelle Training mit dem gesamten Fachpersonal aus Pflegenden, Ärztinnen und Ärzten, Oberärztinnen und Oberärzten so wichtig.“

Videoanalyse und Nachbesprechung 

Bei den Simulationstrainings sind die Situationen wie im echten Leben. Nur dass dabei Instruktorin Maike Hawlicek an den Reglern sitzt. Sie steuert Paulchens gesundheitlichen Probleme und die passenden Symptome am Laptop, während ihn ein Team aus ärztlichem sowie pflegendem Fachpersonal im Übungs-Kreißsaal versorgt. Manchmal baut das Team auch absichtlich kleine Störfaktoren ein. Unter Hochdruck arbeiten alle gemeinsam an Diagnostik und Therapie, helfen sich gekonnt gegenseitig und kommunizieren klar und unmissverständlich miteinander: Eine Kinderärztin intubiert, ihre ärztliche Kollegin assistiert, eine Pflegekraft behält solange alle Vitalwerte im Blick, während eine andere Pflegerin schon das Material für den venösen Zugang vorbereitet. 

Die Simulation ist am Computer zu sehen und zu steuern.
Eine Person hält die Hand der Simulationspuppe.
Eine Schwester schaut die Simulationsgrafiken auf dem PC an

Nachdem Paulchen erfolgreich stabilisiert wurde, treffen sich alle Teilnehmenden zurück im Schulungsraum zur Nachbesprechung und Videoanalyse in großer Runde mit den anderen Kolleginnen und Kollegen. Diese konnten währenddessen alles live über die große Leinwand mitverfolgen. Bei diesem sogenannten Debriefing steht vor allem das Lernen im Vordergrund. Die Trainerinnen und Trainer moderieren und unterstützen somit eine strukturierte und konstruktive Nachbesprechung bei der alles erlaubt ist: ehrliche Kritik ebenso wie Lob, Verbesserungsvorschläge und mögliche Therapiealternativen. Deshalb sind in jedem Szenario „Fehler“ nicht nur zugelassen, sondern auch erwünscht, um gemeinsam daraus zu lernen. Aus diesem Grund vertritt Dr. Wiechers die Ansicht, dass die Notfall-Trainings für alle neonatologischen Abteilungen zum Standard werden sollten: „Piloten dürfen schließlich auch nicht fliegen, wenn sie nicht mehrfach im Jahr im Flugsimulator trainieren. In beiden Fällen geht es um Menschenleben.“ Außerdem befürwortet sie die stärkere Integration der Eltern in alle Phasen von Notfallversorgung und Reanimation: Früher habe man die Eltern von den Behandlungsräumen ferngehalten. Hier habe sich zum Glück in den letzten Jahren sehr viel verändert, denn heute haben Eltern zunehmend die Möglichkeit, bei der Reanimation ihres Kindes dabeizubleiben. Idealerweise kümmert sich eine Person aus dem Team um die Betreuung und Information der Eltern: „Die Elterngespräche sind auch Teil des Trainings, besonders wenn wir ihnen nur wenig Hoffnung machen können und schlechte Nachrichten überbringen müssen. Das gehört leider auch dazu.“

Fortschritte in der Frühgeborenenmedizin und die stetig wachsende Expertise von Fachärztinnen und Fachärzten der Neonatologie machen es möglich, dass heute sogar viele Extremfrühchen mit nur rund 500 Gramm Geburtsgewicht überleben. „Die hohe Überlebensrate ist nicht zuletzt auch unserem Paulchen zu verdanken, der uns mit seinen vielseitigen Komplikationen regelmäßig fordert. Aber nur so können wir den echten kleinen Patientinnen und Patienten gute Begleiter beim Start ins Leben sein“, resümiert Dr. Wiechers. Das Team der Neonatologie darf schon gespannt sein, welche Herausforderungen Paulchen beim nächsten Simulationstraining in petto hat.