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11.02.2022

Interview mit Ghazaleh Tabatabai zum Women in Science Day 2022

Für Prof. Dr. Ghazaleh Tabatabai war das menschliche Gehirn und die Schaltzentrale des menschlichen Körpers, das Nervensystem, schon in der Schule eine phantastische Wunderwelt. Später im Medizinstudium wurde ihr recht schnell klar, dass sie Neurologin werden will. Angetrieben wird sie dabei von der Faszination und dem Willen, das Unbekannte zu erkunden und neue Erkenntnisse für Patientinnen und Patienten nutzbar zu machen. Als Forscherin und Ärztin ist ihr dabei eine Herzensangelegenheit, die tumorbiologischen Grundlagen zu verstehen und neue Therapieformen zu entwickeln. Mit aktuell 48 Jahren blickt sie als Ärztliche Direktorin am Zentrum für Neurologie des Universitätsklinikums Tübingen, als Abteilungsleiterin am Hertie Institut für klinische Hirnforschung, als Forschungsgruppenleiterin im iFIT Exzellenzcluster sowie als Sprecherin des Zentrums für Neuroonkologie am CCC Tübingen-Stuttgart auf eine bereits beeindruckende Karriere zurück. Anlässlich des Internationalen Tages für Mädchen und Frauen in der Wissenschaft haben wir Frau Tabatabai gefragt, was sie dazu bewogen hat, eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen und was noch für Frauen in der Wissenschaft getan werden kann.

1. Was hat Sie dazu bewogen, eine naturwissenschaftliche Karriere einzuschlagen?

Es war kein einzelnes definiertes Ereignis, das mich bewogen hat. Es haben wahrscheinlich viele facettenreiche Umstände und Gründe dazu beigetragen. Zum einen die Prägung durch meine Familie, aber auch durch meine Schulzeit, weil ich wirklich sehr gute Lehrerinnen und Lehrer in Mathematik und allen naturwissenschaftlichen Fächern hatte. Den wesentlichen Beitrag zu dieser Entscheidung sehe ich aber im Abenteuergeist, den ich in mir habe. Das heißt, ich liebe es, das Unbekannte und terra incognita zu erkunden, Neuland zu entdecken und zu gestalten. Das charakterisiert für mich auch heute noch das tiefste Wesen der Wissenschaft. Man formuliert ungeklärte relevante Fragestellungen, man überlegt sich mögliche Lösungswege, schlägt diese ein, und man schaut und fragt sich, was entdecke ich hier Neues? Dieses Neue gilt es dann wiederum zu analysieren, zu bewerten, in einen Kontext zu bringen, um so Erkenntnisgewinn zu generieren. Für mich persönlich ist auch immer die sich dann anschließende Frage wichtig, wie dieser Erkenntnisgewinn nutzbar und wirksam gemacht werden kann, zB in Form von neuen diagnostischen Methoden oder neuen therapeutischen Ansätzen für Patientinnen und Patienten. Diese gesamte kreative Kette empfinde ich als eine Entdeckungsreise, und der Abenteuergeist dazu ist einfach tief in meinem Wesen verankert. Irgendwie fühle ich immer vor allem dann eine besondere Lebendigkeit, wenn ich mit Menschen und für Menschen arbeiten und dabei neues entdecken und gestalten kann. Mir hat aber sicher auch sehr geholfen, dass ich inhaltlich vom reinen Lernstoff, den man ja nun mal während des Studiums bewältigen muss, unheimlich fasziniert war. Also die Neugier und die Freude am konkreten Inhalt waren wichtige Hilfestellungen für mich, weil ich mir dadurch eine Art Rucksack gepackt habe mit dem fachlichem und technischem Rüstzeug für die Abenteuerreise der wissenschaftlichen Laufbahn.

2. In welcher Hinsicht glauben Sie, dass Ihre berufliche Laufbahn ein Vorbild für Mädchen sein kann, die mit dem Gedanken spielen, in die Naturwissenschaften zu gehen?

Vielleicht einfach dadurch, dass ich auch einmal ein Mädchen war, das in die Schule ging und sich dann auf so eine Abenteuerreise gemacht hat, ungeachtet aller Herausforderungen. Ich denke, wenn Mädchen bzw. junge Frauen, die am Anfang ihrer Karriere stehen, sehen, dass auch andere Frauen diesen Weg bestritten haben und bestreiten, dann kann das eine gewisse Vorbildfunktion haben.

3. Hatten Sie ein Vorbild bzw. Vorbilder?

Das muss ich mit einem klaren Nein beantworten. Was mich natürlich generell beeindruckt hat, sind Menschen, die Neuland betreten haben und sich z.B. für Frauen bzw. Frauenrechte eingesetzt haben, aber diese waren keine Vorbilder für meine wissenschaftliche Laufbahn. Selbstverständlich haben mich mein Umfeld, Familie und Freunde auf meinem Weg begleitet und unterstützt. Aber die Motivation und der Wille, so einen Weg zu bestreiten, wurde nicht von einem konkreten Vorbild oder einer Person geprägt. Dieser Abenteuergeist, die Motivation und der Wille kamen aus meinem Innersten.

4. Welchen Rat würden Sie Mädchen an die Hand geben, wenn diese eine Karriere in der Naturwissenschaft anstreben?

Lass Dich auf das Abenteuer ein, geh mit Leidenschaft, Mut, Disziplin und Fleiß ans Werk, glaub an Dich und Deine Fähigkeiten! Ein wichtiger Punkt erscheint mir, nie stehen zu bleiben und nie selbstgefällig zu stagnieren, sondern sich ständig weiterzuentwickeln und immer wieder neues zu erkunden und dazuzulernen. Es wird meistens so sein, dass etwas nicht auf Anhieb klappt, lass Dich nicht entmutigen! Ich denke, es ist essentiell, eine positive Grundhaltung zu Anstrengung zu entwickeln, denn Weiterentwicklung geht ohne das Verlassen der Komfortzone nicht, und das ist natürlich erstmal sehr anstrengend und mühsam! Mit Mut, Fleiß, Beharrlichkeit, Beständigkeit und Disziplin meisterst Du solche Phasen und entwickelst Dich weiter!

5. Was wünschen Sie sich in Zukunft für die Förderung von Frauen in der Wissenschaft?

Die gute Nachricht ist, dass das Thema auf der politischen Agenda ist. Es gibt aber noch sehr viel zu tun. Wenn wir uns die Zahlen der Studienanfängerinnen und Studienanfänger in den Naturwissenschaften und der Medizin angucken, dann haben wir einen überwiegenden Frauenanteil, aber dieses Verhältnis bricht nach der Promotion ein. Ganz konkret wünsche ich mir also, dass es keine Abbruchkante nach der Promotion gibt. Ich wünsche mir, dass die geltenden Normen, Rollenbilder und Routinen in den wissenschaftlichen Organisationen und Institutionen, die noch häufig auf männlichen Konstruktionen und Perspektiven beruhen, weiter konstruktiv hinterfragt und divers gestaltet werden. Dass Leistungen von Frauen die gleiche Anerkennung und Sichtbarkeit bekommen. Dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht nur etwas ist, was gefördert wird, sondern aktiv in Institutionen eingefordert wird. Ich bin davon überzeugt, dass diese und viele andere Maßnahmen zur Chancengleichheit keine generösen Gefälligkeitsgesten sind, sondern vielmehr die Wissenschaft enorm bereichern und ermächtigen werden. Wir stehen vor komplexen Herausforderungen und haben gleichzeitig enorm viele verborgene Talente, die nicht zum Zuge kommen! Das ist ungenutztes Potential! Wenn all diejenigen, die noch so viel beitragen könnten, auch sichtbar und wirksam werden könnten, dann wäre doch allen geholfen! Deswegen muss es das Interesse der Wissenschaft sein, diese verborgenen „Schätze“ zu bergen und zu entwickeln. Wir können und dürfen es uns nicht leisten, sie zu übersehen!

Das Interview führte Steven Pohl

Den Spagat zwischen Klinik- und Forschungsalltag zu meistern, gehört zu den großen Herausforderungen, die aber für Prof. Tabatabai eine Herzensangelegenheit darstellen, um neue Erkenntnisse aus dem Labor schnell ans Krankenbett zu bringen. (Fotos: Verena Müller & Fabian Zapatka)


Über Prof. Dr. Ghazaleh Tabatabai

Position: Ärztliche Direktorin, Abteilung Neurologie mit interdisziplinärem Schwerpunkt Neuroonkologie, Universitätsklinikum Tübingen; Forschungsgruppenleiterin im Exzellenz-Cluster iFIT (EXC 2180), Sprecherin des Zentrums für Neuroonkologie am CCC Tübingen-Stuttgart
Forschungsschwerpunkte: Neuroonkologie, molekulare Grundlagen der erworbenen Therapieresistenz, Therapie-induzierte Vulnerabilität, frühe klinische Investigator-initiierte Studien
Geburtsjahr: 1974
Studium: 1993 – 2000 Humanmedizin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; 2002 Abschluss Medizinische Dissertation (Dr. med.), Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Beruflicher Werdegang: https://www.medizin.uni-tuebingen.de/de/das-klinikum/mitarbeiter/profil/1602