Die Antikörper-Schmiede

Mit dem körpereigenen Abwehrsystem Krebs bekämpfen – auf diesem Ansatz beruht die Immuntherapie. Prof. Helmut Salih leitet die Klinische Kooperationseinheit (KKE) Translationale Immunologie am Universitätsklinikum Tübingen (UKT) und dem DKFZ und ist Vorreiter auf diesem Gebiet. An der KKE werden bereits 15 selbst entwickelte Immuntherapien in klinischen Studien evaluiert. 

Jährlich erkranken etwa eine halbe Million Menschen in Deutschland an Krebs. Irgendwo in ihrem Körper beginnen Zellen, sich unkontrolliert zu vermehren. Die klassischen Behandlungsmethoden dafür waren früher Operation, Bestrahlung oder Chemotherapie. Doch mittlerweile sind auch Strategien etabliert, das körpereigene Immunsystem zu mobilisieren, um den Krebs zu heilen.

Seit April 2019 Ärztlicher Direktor der KKE Translationale Immunologie am Universitätsklinikum Tübingen: Prof. Dr. Helmut Salih.

„Die Immuntherapie wurde lange Zeit belächelt“, sagt Helmut Salih, der seit mehr als 25 Jahren zu dem Thema forscht. Zuerst in München, wo er seinen Mentor Gundram Jung kennenlernte, dann in den USA und schließlich, wieder zusammen mit Jung, in Tübingen. Ihr Durchhaltevermögen hat sich ausgezahlt - inzwischen ist klar, dass das Immunsystem eine der besten Waffen gegen Krebs überhaupt ist. 

Das körpereigene Abwehrsystem hat sich entwickelt, damit höhere Organismen in einer Welt voller Viren und Bakterien überleben können. Bei Krankheitserregern kennen die Immunzellen keine Gnade - was fremd ist, wird attackiert. Aber auch Tumoren können vom Immunsystem eliminiert werden - vorausgesetzt, man weist den Abwehrzellen den Weg.

Die KKE hat ein ambitioniertes Ziel: Das "Valley of Death", also die lange Durstrecke zwischen Entwicklung und klinischer Erprobung eines Wirkstoffes, zu verkürzen.

Mit einem Team aus Ärzten und Wissenschaftlern entwickelt Salih in der Klinischen Kooperationseinheit (KKE) Translationale Immunologie sogenannte bispezifische Antikörper, die mit ihren „zwei Armen“ unterschiedliche Proteine gleichzeitig binden: Mit einem Arm erkennen sie die Tumorzellen. Mit dem anderen stimulieren sie die sogenannten T-Zellen, die potentesten Abwehrzellen des Immunsystems, die dann die Tumorzellen abtöten.

Bislang sind bispezifische Antikörper vor allem dann erfolgreich, wenn die Tumorzellen für das Immunsystem leicht zugänglich sind, wie zum Beispiel bei Blutkrebs oder Lymphdrüsenkrebs. Bei soliden Tumoren, der überwiegenden Mehrzahl der Krebserkrankungen, haben es die Immunzellen schwerer. „Wir müssen die T-Zellen dazu bringen, die Blutgefäße zu verlassen und in den Tumor einzuwandern“, erklärt Salih. Dafür entwickelt das Team Antikörper, die nicht nur die Tumorzellen selbst, sondern auch die Blutgefäße des Tumors erkennen. Das verbessert die Wirksamkeit.

Helmut Salih ist ein Vordenker, trotzdem sehnt er sich in mancher Hinsicht in frühere Zeiten zurück. Noch Ende der 90er Jahre, als Salih mit Jung erstmals zusammentraf, war es für forschende Ärzte möglich, ein Medikament im Labor zu entwickeln und dann rasch bei schwerkranken Patienten ohne andere Therapieoption einzusetzen. Durch immer weiter zunehmende Vorschriften sind die Entwicklung und klinische Testung von Arzneimitteln an öffentlichen Institutionen mittlerweile kaum mehr finanzierbar. Manche potenziell lebensrettende Idee schafft es deshalb nie vom Labor zum Patienten. Helmut Salih will sich damit nicht zufriedengeben: „Jung und ich wollten immer schon wie Paul Ehrlich Arzt und Medikamentenentwickler zugleich sein. Außerdem glaube ich, dass die Expertise aus dem Labor wesentlich beitragen kann, Wirkungen und vor allem auch Nebenwirkungen in der Klinik besser beurteilen zu können.“

Am Universitätsklinikum Tübingen ist genau das möglich. 2019 wurde hier die KKE Translationale Immunologie ins Leben gerufen, die Helmut Salih leitet, mittlerweile gemeinsam mit Juliane Walz, der Professorin für Peptid-basierte Immuntherapie. „Die Gründung der KKE im Jahr 2019 war eine visionäre Entscheidung des Universitätsklinikums“, findet Salih. „Hier wurde eine innovative Struktur geschaffen, damit Krebspatienten schneller von den Ergebnissen der Forschung profitieren können“.

Die KKE arbeitet eng mit den verschiedenen Fachabteilungen des UKT zusammen. So identifiziert das Team der KKE beispielsweise zusammen mit der Abteilung für Urologie geeignete Patienten für eine Therapie mit einem Antikörper gegen Prostatakrebs, mit Kollegen aus der Gastroenterologie werden Immuntherapiestudien für Darm- und Leberkrebs durchgeführt. Von der neuen Struktur profitieren die Patienten: „Mittlerweile kommen wir in der KKE auf 15 klinische Studien mit von uns an öffentlichen Institutionen entwickelten Immuntherapeutika für verschiedene Krebserkrankungen.Ich denke, das ist ziemlich einmalig und hilft uns, für unsere Patienten immer schneller und besser zu werden“, erklärt Salih ein wenig stolz.

Die Interdisziplinarität zeichnet nicht nur die KKE Translationale Immunologie, sondern die gesamte Forschung an der Medizinischen Fakultät aus.

Ein Beispiel: In der KKE läuft seit 2019 eine Studie mit einem Antikörper bei Patienten mit fortgeschrittenem Prostatakrebs. Fast alle Patienten sprachen an, aber nur kurz. „Wir wissen, dass T Zellen für eine nachhaltige Immunantwort zwei verschiedene Signale benötigen. Das erste aktiviert sie gegen den Tumor, das zweite sogenannte costimulatorische Signal sorgt dafür, dass sie aktiv bleiben und sich vermehren. Letzteres ist wichtig, um große Tumore, die aus sehr vielen bösartigen Zellen bestehen, nachhaltig bekämpfen zu können“ erklärt Salih. Bisher verfügbare bispezifische Antikörper liefern jedoch nur das erste Signal. Basierend auf frühen Pionierarbeiten von Jung hat das Team nun eine Kombination aus zwei bispezifischen Antikörpern entwickelt, die jeweils mit einem Arm unterschiedliche Zielmoleküle auf Tumorzellen binden, und mit dem jeweils anderen Arm einen der beiden T Zell-Rezeptoren aktivieren. Dadurch kann eine Steigerung der Tumorspezifität und somit Reduktion von Nebenwirkungen, aber vor allem auch eine langanhaltende Immunantwort erreicht werden. Diese Kombinationstherapie wird 2024 in einer ersten klinischen Studie getestet werden. Helmut Salih wird diese Therapie wieder vom Labor bis zum Patientenbett begleiten.